Enttäuscht bin ich dieses Mal nicht, eher überrascht davon, dass Uwe Johnson trotz der zehn Jahre Pause, die zwischen dem dritten und dem vierten (letzten) Band der Jahrestage liegen, im Vergleich zu eben dem dritten Band, an der grundlegenden Konstruktion des Romans für Band IV so wenig geändert hat. Ich kann mir das nur so erklären, dass die große Krise (die man meist verniedlichend eine ‚Schreibblockade‘ nennt) bei Johnson bereits zwischen Teil II und Teil III eingesetzt haben muss. Immerhin gab es ja da schon eine Pause von zwei Jahren. Dass sich Johnson in den zehn Jahren zwischen Teilen III und IV kaum weiter entwickelt hat, ist ein Zeichen dafür, wie hart seinen Lebenskrise ihn getroffen hat. Es erinnert in wenig an jene Sagengestalten, die sich in eine Höhle zum Schlafen niederlegen, und wie sie wieder aufwachen, sind zehn oder hundert Jahre vorbei – nur, dass für Johnson die Höhle eine Hölle war. Während aber der Schläfer in der Sage bei den Leuten, die er nach dem Erwachen trifft, nur auf Unverständnis stößt und sich schnellstens anpassen muss, stieß die Veröffentlichung von Band IV nach zehn Jahren auf riesigen Jubel in der Gemeinde.
Sicher: Es gibt Änderungen in der Ausführung zwischen den Teilen III und IV. Die bestehen meist darin, dass Johnson Tendenzen, die er bereits in Teil III einführte, radikalisiert. New York verschwindet praktisch gänzlich aus dem Fokus des Erzählens; selbst der Einbruch in Gesines Wohnung könnte irgendwo stattgefunden haben. Dass dabei ausgerechnet das Aufnahmegerät und die bereits besprochenen Bänder mit Gesines Erinnerungen gestohlen werden, war vielleicht schon von Anfang an geplant und hätte wohl eine meta-erzählerische Pointe darstellen sollen. Johnsons Kraft reichte nun aber offenbar nicht mehr ganz; das Vorkommnis wird erzählt – und fallen gelassen. Fallen gelassen werden auch die USA – ob Innen- oder Außenpolitik: Wir erfahren kaum mehr etwas. Etwa zwei Mal wird beiläufig erwähnt, dass es in Vietnam immer noch Tote gibt.
Stärker noch als in Teil III konzentriert sich die Erzählung auf das Schicksal der Familie Cresspahl in der jungen DDR, was die Vergangenheit betrifft – so sehr, dass Gesines Schicksal nach der Flucht in die BRD und später nach der Emigration in die USA nur noch mit ein paar Stichworten abgehandelt wird, weil für mehr der Raum fehlt. Was Gesines Gegenwart betrifft, konzentriert sich der Roman, die ursprüngliche politische Ausrichtung völlig beiseite werfend, auf Gesines Vorbereitungen für ihren neuen Job in Prag und die politischen Ereignisse rund um die ČSSR, wo sich die ganze Welt, die New York Times und Gesine inklusive, das ganze Buch hindurch fragt, ob (und wenn ja; wie) die UdSSR auf den so genannten Prager Frühling reagieren wird. (Der Roman endet am Vorabend des Einmarsches der Truppen des Ostblocks. Gesine ist bereits auf dem Weg, den Auftrag ihrer Bank auszuführen. Wir verlassen sie in Dänemark, wohin sie schon geflogen ist. Sie sieht auch kein Problem für ihren Weiterflug nach Prag am nächsten Tag. Finis operis.)
Ich muss mich korrigieren: Eine Nebenhandlung rückt noch in den Vordergrund in Teil IV. Das ist die Geschichte von D. H.. Ursprünglich (also in den Teilen I und II) war diese Figur als eine Art Alter Ego des Autors angelegt, der sich ja als eine Art Deus ex machina seinerseits in die Geschichte einbrachte und mit seiner Figur darüber diskutierte, wie denn diese nun geschrieben werden sollte. In diesen Momenten war sich Gesine über ihren ‚eigentlichen‘ Charakter als Figur in einem Roman durchaus im Klaren. Eine komplexe und nicht immer durchsichtige Konstellation, zumal nun eben dieser D. H. als Kunstfigur die Positionen des Autors aufnahm – eine Kunstfigur, die auf der gleichen Ebene agierte wie die Kunstfigur Gesine und deshalb für diese ‚echt‘ war. Diese ‚Echtheit‘ spitzte Johnson im dritten Buch dahingehend zu, dass D. H. eine eigene Biografie und ein Eigenleben erhielt, das nichts mehr mit dem Autor zu tun hatte. Dieser trat in Buch III merklich in den Hintergrund; erst im letzten Buch sollten wieder vermehrt Dialoge auftreten zwischen dem Autor und seiner Kunstfigur Gesine. D. H. aber stand in der Form, die er in Buch III angenommen hatte, der weiteren Entwicklung im Weg. Er war zu einem intimeren Bekannten Gesines geworden als alle anderen Figuren des Buchs – mit Ausnahme vielleicht von Jakob in den Erinnerungen an Kindheit und Jugend in der DDR, der ja dann zu Maries Vater werden sollte. Um also D. H. einigermaßen erklären zu können, versuchte Johnson in der ersten Hälfte von Buch IV, diese leider in Buch III zu einem ‚richtigen Leben‘ erweckte Figur parallel zu Jakob zu führen, was in letzter Konsequenz in einen Heiratsantrag mündete. Dann aber merkte Johnson, dass das alles andere als zielführend war. Gesine als Gattin eines offenbar ziemlich vermögenden US-Amerikaners hätte es nicht mehr nötig gehabt, weiter bei ihrer Bank zu arbeiten. Ja, nach damaligen Anschauungen wäre sie fast gezwungen gewesen, ihren Job aufzugeben. Das wiederum hätte das Ende bedroht, die Verknüpfung von Gesines Schicksal mit dem der ČSSR. Johnson fehlte offenbar die Energie, den ersten Teil von Buch IV noch einmal umzuschreiben. Er griff zu einer anderen Lösung und ließ D. H. bei einem Flugzeugabsturz in Finnland ums Leben kommen. (Damit hatte er immerhin erreicht, dass die beiden Männer, die in Gesines Leben eine wichtige Rolle spielten, D. H. und Jakob, beide bei einem Unfall ums Leben gekommen waren. Vielleicht tue ich ihm ja auch Unrecht, und es war von Anfang an so geplant.)
Ist, zusammenfassend, dieser Monsterroman nun eine empfehlenswerte Lektüre oder nicht? Ich bin zwiegespalten. Irgendetwas wie Psychologie ist komplett abwesend. Johnson beschreibt die Handlungen und Gedanken der Figuren (und diese sich selber auch), wie wenn es sich um Maschinen handeln würde. Das ist ziemlich sicher gewollt, aber nicht jedermanns und -fraus Sache. Die Sprache … Reich-Ranicki hat sie „ledern“ genannt, ich würde eher „hölzern“ sagen. Reich-Ranicki konnte der Versuchung nicht widerstehen, eine schlechte Pointe anzuhängen, und fuhr fort: „nein, kunstledern“. Wenn ich eine ähnlich schlechte Pointe anfügen soll, würde ich sagen: Die Sprache ist hölzern, aber aus Edelholz. Tatsächlich kann die meist simple parataktische Reihung der Satzglieder zu einem faszinierenden Sog führen, der einen immer weiter zieht im Roman.
Wirklich erinnernswerte Szenen gibt es meiner Meinung nach aber nur eine in diesem Roman. Und die kommt, so seltsam es klingt, in Band IV vor. Es handelt sich um die nicht zu Unrecht berühmte Szene einer Fontane-Interpretation in einer Schule der DDR, die nicht nur wegen verschiedener Verbiegungen der Teilnehmenden interessant ist sondern auch, weil Johnson später in der Erzählung noch nachholt, dass sie einigen Teilnehmern (aber nicht Gesine) längere Haftzeiten in Lagern eingetragen hat. (Die DDR muss eindeutig die ganz große Wunde in Johnsons Leben gebildet haben.)
Opus magnum? Epochenroman? Hm … nein. Ein guter Roman, ja. Er weist Längen auf und Konstruktionsfehler, dennoch fasziniert er mich. So, wie mich seinerzeit die großen Schaben fasziniert haben, die in Brasilien durch unsere Küche liefen. Diese Faszination war eine Mischung von Bewunderung und Ekel für diese urtümlichen Geschöpfe. Es ist hier eine Mischung von Bewunderung über das Errreichte und Trauer über die vielen verspielten Möglichkeiten, wirklich einen Epochenroman zu schreiben.