Jules Verne: Von der Erde zum Mond [De la terre à la lune]

In einem dicken weißen, durch einen dünnen schwarzen Strich unterbrochenem Rahmen die blau kolorierte Zeichnung einer Rakete (Stahlstich?) in Form eines Geschoßes, die unten von der Mitte nach schräg links oben fliegt, in Richtung des Mondes, von dem man im Ausschnitt ein ganz kleines helles Segment sieht. Der Hintergrund, dunkelblau-schwarz mit hellen Punkten stellt das Weltall dar. Ausschnitt aus einer für das Buchcover verwendeten Originalillustration der französischen Erstausgabe.

Ionesco wird auf dem hinteren Buchdeckel meiner Ausgabe folgendermaßen zitiert: Jules Verne war der letzte seherische Schriftsteller. Was er ersann, ist Wirklichkeit geworden. Tatsächlich sind viele seiner Ideen in verblüffend ähnlicher Form heute Realität. Wir erinnern uns an den Niedergang der geisteswissenschaftlichen Studien im 20. Jahrhundert oder die sonderbare Art moderner Musik, die Verne schon in einem Frühwerk prognostiziert hat. Auch in dieser Mondfahrt hier finden wir Details, die sehr ähnlich im 20. Jahrhundert umgesetzt worden sind. Cape Canaveral, von wo aus bisher sämtliche Raumschiffe der USA gestartet sind, befindet sich ebenso im Bundesstaat Florida wie der Ort, an dem der Gun Club seine riesige Kanone aufstellt hat, und das Fernrohr auf den Rocky Mountains, mit dem das Geschoss beobachtet werden soll, hat auch seine Entsprechung in der Gegenwart. (Daneben aber sind Vernes Naturwissenschaft und Technik ganz klar die des 19. Jahrhunderts.)

Aber der Reihe nach: Wer ist der Gun Club und was treibt ihn dazu, eine Kanonenkugel auf den Mond jagen zu wollen? Wir befinden uns mit diesem Roman in den USA, in der Zeit kurz nach dem Ende des Sezessionskriegs. Beim Gun Club handelt es sich um eine Vereinigung ehemaliger Artilleristen, die nunmehr durch das Kriegsende arbeitslos geworden sind und sich überlegen, was sie dagegen tun könnten. Ein erster Vorschlag, irgendwo einen neuen Krieg anzuzetteln, wird verworfen, dafür kommt der Vorsitzende, Impey Barbicane, auf die Idee, die hohe Qualität der Erzeugung von Kanonen zu demonstrieren, indem man eben den Mond beschießt. Ein Gutachten der Universität Cambridge (USA) berechnet und bestätigt die Machbarkeit des Vorhabens. Sofort wird Geld dafür gesammelt.

Die Beschreibung der Sitzung, an der dies beschlossen wird, zeigt Vernes leicht atavistischen Sinn für Humor. Praktisch alle Mitglieder des Gun Club sind im Krieg verletzt worden und haben dieses oder jenes Gliedmaß (oder auch mehrere) verloren. Dennoch stellen sie dar, was Verne als typische Amerikaner betrachtet: Sie sind wagemutig, leicht zu begeistern, sofort für neue gewagte Projekte zu haben (die sie allerdings nicht ganz durchdenken) und – streitsüchtig. Noch acht Jahre später, in der Reise um die Erde in 80 Tagen sollte Verne die US-Amerikaner genau gleich darstellen.

Doch Verne will gleichzeitig belehrend wirken. So hält Barbicane auf jener Sitzung des Gun Club auch eine Rede, in der er ganz nebenbei eine Art Geschichte des Mondes präsentiert. Darin wird nicht nur Entstehung und Alter des Mondes nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zeit geschildert – Barbicane gibt auch einen kurzen Rückblick auf die Verwendung des Mondes als literarisches Motiv. Dabei wird Cyrano de Bergeracs Reise zum Mond ebenso erwähnt wie ‘The Great Moon Hoax‘ von Richard Adams Locke und Das unvergleichliche Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall von Edgar Allan Poe. Cyrano wird bei einem französischen Autor wie Verne nicht verwundern – allerdings dann schon eher bei einem US-amerikanischen Artilleristen und ehemaligen Holz-Großhändler wie Barbicane. Bei Locke und Poe gilt dann eher das Umgekehrte; andererseits war Lockes ‚Hoax‘ zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Romans erst rund 30 Jahre her und Verne mag sich daran erinnert haben. Dass Poe gleich im Anschluss erwähnt wird, könnte darauf hinweisen, dass Verne um die Plagiatsvorwürfe wusste, die Poe gegen Locke geäußert hatte, auch wenn er im Roman nicht darauf eingeht.

Solche belehrenden Einschübe erleben wir im Übrigen immer wieder in diesem Roman, der überhaupt in Bezug auf Spannung und Handlung wenig zu bieten hat. Selbst das Auftauchen des Franzosen Ardan ändert daran wenig, obwohl der doch die Männer des Gun Club zu überreden vermag, statt einer unbemannten Kanonenkugel einen Hohlzylinder mit ihm als Passagier hoch zu schießen. Auf die Frage, wie er zurückkehren wolle, antwortet er hier, nebenbei bemerkt, mit „Gar nicht.“ Ardan geht, wie offenbar alle Mitglieder des Gun Club davon aus, dass es auf dem Mond Atmosphäre gibt und eventuell intelligentes Leben – jedenfalls die Möglichkeit, dort zu überleben.

Die einzige halbwegs spannende Entwicklung des Romans, nämlich ein drohendes Duell zwischen Barbicane und seinem Erzfeind Nicholl, wird dahin gehend aufgelöst, dass Ardan die beiden Kontrahenten überzeugt, mit ihm zusammen zum Mond zu reisen. Die beiden stimmen zu, und so werden, wo vorher ein Mensch mitreisen sollte, nun deren drei in den Zylinder gestopft, von zwei riesigen Hunden nicht zu reden. (Und nein: Es werden keine neuen Berechnungen durchgeführt über zum Beispiel die Größe der Kanone oder die benötigte Menge an Schießbaumwolle zum Abschuss.)

Schließlich werden die Drei auf den Weg gebracht – mit einem riesigen Knall und einer derartigen Entwicklung von Dampf, dass es auf Tage hinaus unmöglich ist, den Weg des Geschosses zu verfolgen. Als man es dann nach Tagen findet, zeigt es sich, dass irgendwo ein Fehler unterlaufen sein muss. Anstatt auf dem Mond aufzuschlagen, ist der Zylinder mit den drei Männern zu einem Satelliten unseres Satelliten geworden. Alles dies erfahren wir nur aus der Sicht der Erde; wie es den drei Männern geht – davon kein Wort. Mit der Hoffnung des Sekretärs des Gun Club, mit den im All Gestrandeten Kontakt aufnehmen zu können, schließt der Roman.

Fazit: Viel Belehrung für die reifere Jugend, wenig Spannung, aber ein paar faszinierende Ideen. In Abstrichen auch heute noch lesenswert, auch wenn die streng wissenschaftliche Seite von damals heute eher Kopfschütteln auslöst.


Jules Verne: Von der Erde zum Mond. Direkte Fahrt in siebenundneunzig Stunden und zwanzig Minuten. Aus dem Französischen von William Matheson. Mit zwei Karten und einundvierzig Illustrationen von H. de Montaut. Zürich: Diogenes, 1976. (= detebe-Klassiker 20242) [Ich mag übrigens die Formulierung Direkte Fahrt von Matheson bedeutend besser als die in der neuen dtv-Übersetzung von Volker Dehs verwendete Direktflug: Wir haben hier keinen Linienflug für Touristen vor uns; außerdem wäre zu Vernes Zeit das Wort ‚Fliegen‘ in Zusammenhang mit einer Fortbewegung im All sehr ungewöhnlich gewesen. Das französische Original verwendet die Formulierung: trajet direct en 97 heures 20 minutes, also nicht ‚vol‘, was ‚Flug‘ bedeuten würde.]

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