Johann Gottfried Herder: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend.

Großaufnahme einer grauen Gewebestruktur (= Leineneinband der gelesenen Ausgabe).

Friedrich Schlegel war keineswegs der erste, der das Fragment als literatur- und metakritisches, ja philosophisches Instrument benutzte. Er gab dem Begriff ‚Fragment‘ eine sehr eigene, spezielle Bedeutung, die ihn berühmt machen sollte. Aber schon vor ihm war es der junge Herder, der Fragmente zur Literatur verfasste und dabei auch (sprach-)philosophische Probleme anschnitt. In seinem Fall ist es nun aber weniger eine spezielle Bedeutung, die er dem Wort gab, sondern eine bibliografische Besonderheit, die offenbar zu Verwirrungen führt.

Ich hoffe, dass ich diese korrekt auseinander dividiert habe. Folgendes nämlich: In seinen Briefen spricht Herder praktisch immer von Fragmenten, wenn er auf den vorliegenden Text Bezug nimmt. Die Titel der drei Bände, die er 1767 bei seinem Freund und Freimaurer-Bruder Hartknoch in Riga veröffentlicht, sind allerdings komplizierter. Als Haupttitel finden wir bei allen drei Bänden: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. So weit, so klar (Herder bezieht sich natürlich auf Lessings Briefe über die neuere Deutsche Litteratur). An zweiter Stelle, wo wir normalerweise einen Untertitel suchen, steht beim ersten Band Erste Sammlung von Fragmenten und erst an dritter Stelle finden wird Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend. für Band II hat denselben Aufbau des Titels, nur steht da natürlich zwote – ein Herder’scher Idiotismus, den er in den weiteren Auflagen eliminierte und einfach zweite setzte. Band III aber hält sich nicht an diese Ordnung; hier heißt der Untertitel nun Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend.. Und darunter steht schlicht: Dritte Sammlung. Band I würde 1768 noch eine zweite, umgearbeitete Auflage erleben, wo der Untertitel dann nur noch Fragmente. (mit Punkt!) lautet und der Unter-Untertitel Erste Sammlung. Zweite völlig umgearbeitet Ausgabe. (Was, nebenbei, auch darauf deutet, dass Lessing und sein literaturtheoretisches Werk für Herder bereits an Bedeutung verloren haben.) Vermutlich stammt aus diesem Durcheinander die bei Wikipedia angegebene Veröffentlichung Fragmente über die neuere deutsche Literatur, wobei mir weder klar ist, woher die Orthographie ‚Literatur‘ kommen soll, die völlig entgegen der Gewohnheit der damaligen Zeit und Herders ist, die beide ‚Litteratur‘ schrieben, noch weiß ich, woher als Veröffentlichungsdatum die Jahreszahl 1766/67 genommen ist. Suphan, der Herausgeber der meines Wissens immer noch gültigen kritischen Ausgabe der Werke Herders von 1877, kennt keinen Text mit dem von Wikipedia angegebenen Titel und Veröffentlichungsdatum. Es finden sich tatsächlich in der Datenbank der DNB Bücher von Herder, die auch diesen Titel tragen. Leider kann man bei der DNB nicht ins Buch gucken, aber die Ausgaben scheinen mir nicht zitierfähig zu sein.

Inhaltlich markiert diese erste große Veröffentlichung Herders den Anfang seines Übergangs von der ‚klassischen‘ Aufklärung zu etwas, das man, wenn man diese Phase in Zusammenhang mit den Schriften seines Freundes Hamann betrachtet, gern ‚Anti-Aufklärung‘ nennt, was aber in Tat und Wahrheit aber eher Meta-Aufklärung genannt werden sollte, denn es ging in diesem Moment beiden, Hamann wie Herder, vor allem darum, der Aufklärung nachzuweisen, dass sie die sprachlichen Ursprünge des Denkens (und damit des Philosophierens) vernachlässigte und vieles für ontologische Gegebenheiten hielt, was de facto einfach sprachliche Kategorien waren, die unter Umständen von Sprache zu Sprache variieren konnten. Hamann verlor sich erst in einem zweiten Schritt in hermetisch-mystisches Sinnieren, Herder eigentlich gar nicht – obwohl die Freundschaft der beiden Bestand hatte bis zu Hamanns Tod.

Die vorliegenden drei Bände betreffen vor allem die deutsche Epik und Lyrik. Hier sehen wir, wie sich Herder beim Versuch, eine Position zwischen den literaturtheoretischen Antagonisten Gottsched und Bodmer / Breitinger zu finden, doch langsam den Schweizern (wie er sie oft nennt, dabei auch schon mal Wieland und andere Süddeutsche hinzurechnend) zuneigt. Herder spricht sich gegen eine Poetik der Nachahmung aus, wie sie von Gottsched empfohlen wurde und versucht an Hand einer vertieften Sprachanalyse aufzuzeigen, dass die deutsche Sprache durchaus in der Lage ist, Poetisches poetisch wiederzugeben. Hierin trifft er sich nicht nur mit dem einsetzenden Sturm und Drang sondern auch mit Klopstock (dessen Verhältnis zur aufklärerischen Literaturtheorie seinerseits kompliziert ist). Herder spricht sich gegen die Vergleiche deutscher Schriftsteller mit antiken oder französischen aus. (Dabei übertreibt er auch schon. Seine Auseinandersetzung mit Anna Louisa Karsch, der er den Rang einer Sappho streitig macht, wird er deshalb in der zweiten Auflage ersatzlos streichen, da er der ‚Karschin‘ zu vieles abgesprochen hat, das sie gar nie in Anspruch nahm.) Ins gleiche Kapitel gehört auch Herders Diskussion der Problematik von Übersetzungen. Es war zu seiner Zeit noch unwidersprochene Vorschrift, dass Lyrik und Epik, die im Original in Versen verfasst waren, auch in deutscher Übersetzung in Versen geliefert werden mussten. Die Frage war höchstens, ob sich die deutsche Sprache für, zum Beispiel, Hexameter eignete. Herder bejahte diese Frage und richtete sich hiermit gegen die bisher gültige, von Bodmer wie von den Schweizern akzeptierte Auffassung, wonach im Deutschen Vers nur Jamben möglich seien. Eine Auffassung, die – von Opitz stammend – übrigens auch von Klopstock verworfen wurde. Klopstock, der sich selber noch einmal in einer anderen Richtung von der aufklärerischen Verslehre und Literaturtheorie weg bewegte als der Sturm und Drang (dem Herder dann schließlich folgen sollte) ist vielleicht auch hier als Einfluss im Hintergrund anzunehmen.

Nebenbei erleben wir hier, wie sich die in Deutschland geschriebene Geschichte der antiken Literatur von der der romanischen Sprachen wegbewegt. Vor Herder war es noch Usus, sich bei der Diskussion von Epen primär auf Vergil zu stützen (wohl auch, weil Lateinkenntnisse weiter verbreitet waren als solche des Altgriechischen). Herder aber bezieht sich bei der Diskussion der Epik vorwiegend auf Homer. Es ist in vielem Herders Schuld (oder Verdienst, wie man will), wenn bis heute im deutschen Sprachraum Homer in viel höherem Ansehen steht als Vergil, den wir schon fast als epigonal betrachten.

Wie dem auch sei: Mit der vorliegenden Schrift konnte sich der junge Herder auf einen Schlag in die Reihe der bekannten Literaturkritiker und -theoretiker deutscher Zunge seiner Zeit einreihen. Das kritische Fach lag Herder auf jeden Fall mehr als das literarisch produktive und er sollte noch einige Zeit darin exzellieren.


Meine bibliografischen Angaben:

Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke II. Herausgegeben von Bernhard Suphan. (Im Original: Herders sämmtliche Werke. Herausgegeben von Bernhard Suphan. Erster Band. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1887. (Gelesen im Nachdruck von 1994 bei Olms-Weidmann, den ich seinerzeit noch der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft abgeluchst habe.)

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