Gary Victor: Eine Violine für Adrien [Le violin d’A.]

Fotografie eines dunkelhätigen Jungen, der in braunem Wasser badet. Er ist schräg von links oben erfasst und man sieht vor allem den Schädel mit den kurzgeschnittenen schwarzen Locken.- Ausschnitt aus dem Buchcover.

Ort der Handlung: Port-au-Prince, die Hauptstadt von Haiti; Zeit der Handlung: Frühling 1971. Erzählt wird die Geschichte in der Ich-Form von einem Jungen namens Adrien. Der steckt gerade in der Pubertät, macht die ersten sexuellen Erfahrungen mit gleichaltrigen Mädchen und verliebt sich gar. Zum einen in eine junge Frau, ungefähr seines Alters. Das ist problematisch, denn – während er selber aus einem armen Elternhaus stammt – seine Geliebte ist die Tochter eines der reichsten (und damit mächtigsten) Männer Haitis. Das bedeutet, dass der von der Liebe seiner Tochter nichts ahnende „Schwiegervater“ stark mit dem herrschenden Regime des Diktators François Duvalier verbandelt ist, während Adriens eigener Vater in – allerdings stiller – Opposition zu Papa Doc steht. Das wird dann noch komplizierter, als François Duvalier stirbt. Zwar hat dieser noch versucht, einem Machtvakuum vorzubeugen, indem er seinen Sohn, Jean-Claude, als offiziellen Nachfolger installierte – aber werden die übrigen zum inneren Machtzirkel gehörenden Figuren den blutjungen und politisch absolut Uninteressierten akzeptieren?

Wie wenn so nicht schon genug Probleme wären in Adriens Leben, kommt noch ein weiteres hinzu – eine weitere Liebe. Nicht zu einer Person sondern – zum Geigenspiel. Er erhält die Möglichkeit, zusammen mit einem Dutzend anderer Schüler, ein Jahr lang bei einem renommierten Professor Geigenunterricht zu nehmen, wofür ihm sogar eine Geige umsonst zur Verfügung gestellt wird. Er gehört zu den wenigen Schülern, die wirklich Fortschritte machen, weil er als einziger das Geigenspiel wirklich liebt.*) Aber am Ende des Schuljahres eröffnet der Professor seinen Schülern, dass, wer nächstes Jahr immer noch Unterricht nehmen will, eine eigene Geige mitbringen müsse, da die von einem Orchester ausgeliehenen Geigen zurück gegeben werden müssen. Doch die Kosten für eine eigene Geige übersteigen die Ersparnisse der ganzen Familie um ein Vielfaches.

Der Roman erzählt im Folgenden, wie Adrien versucht, das Geld für die Geige aufzutreiben. Obwohl er sich über seine Mutter lustig macht, die das ebenfalls tut und ständig verliert, spielt auch der Sohn in der staatlichen Lotterie – und verliert ebenfalls ständig. Die Summe seines Ersparten wird dadurch nur noch kleiner. Er nimmt einen Job an als Kellner, aber auch da nützen ihn die Gäste und Gästinnen nur aus – auch sexuell. Das Hauptmerkmal unseres Helden ist nämlich seine Naivität. Ja, er ist mehr als naiv. Nämlich sehr naiv. Ungeheuer naiv. Ohne es zu merken, schlittert er in eine Intrige, die sich einerseits zwischen verschiedenen Zirkeln im Umfeld des Diktators abspielt, andererseits zwischen Regime und Oppositionellen. Das Ganze wird noch komplizierter durch den Umstand, dass Papa Doc genau in der Zeit stirbt, die das Geschehen des Romans in Anspruch nimmt, und Regime-Treue wie Opposition versuchen, sich neu und besser aufzustellen.

Adrien erzählt seine Geschichte auch in zum Teil absurden, an Träume erinnernden Sequenzen. Obwohl unschuldig und rein passiv, wird auch er im Lauf der Ereignisse verletzt. Nicht körperlich aber seelisch. Der Schluss des Romans (den ich hier nicht verraten möchte) lässt uns mit Fragen zurück, Fragen nicht nur zu den vergangenen Ereignissen sondern auch zur Zukunft Adriens.

Gary Victor ist den Kenner:innen haitianischer Literatur (zu denen ich mich nicht zähle) vor allem ein Begriff durch seine Kriminalromane um den frustrierten Inspektor Dieuswalwe Azémar**). Der vorliegende Roman gehört nicht zu dieser Reihe, ist nicht einmal ein Kriminalroman. Aber es ist ein Buch voller Lebensfreude und Trauer, Hoffnung und Verzweiflung. Beim Lesen erhält man den Eindruck, dass sich das haitianische Volk nicht unterkriegen lässt. Aber die Oberhand gewinnt es auch nicht. Es hat sich in den paar Wochen, die der Roman umfasst, vieles geändert. Und doch ist irgendwie alles gleich geblieben. Eine realistisch geschilderte und lesenswerte Erzählung.


*) Wobei uns der Autor bezeichnenderweise über die tatsächlichen geigerischen Fähigkeiten Adriens im Ungewissen lässt. Wir erfahren nicht, welche Stücke er spielt – mit einer Ausnahme. Einmal erwähnt Adrien, dass er sein Lieblingsstück übt: ein vom Professor für Geige umgeschriebenes Lied – der Beatles.

**) Sein Vorname, aus dem Kreolischen ins Französische übersetzt, lautet „Dieu soit loué“ = „Gottlob“ im Deutschen.

Zum Schluss die bibliografischen Angaben:

Gary Victor: Eine Violine für Adrien. Aus dem Französischen von Peter Trier. Ungekürzte Ausgabe. Trier: Litradukt, 2024.

Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

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