Die eine rettet die Welt, die andere bewegt sie – was haben Poesie und Technik sich heute zu sagen? Lyrikpreis München 2024

Auf weißem Hintergrund in blauer Farbe verschiedene Satzzeichen und diakritsche Zeichen wie Punkt, Doppelpunkt, Gedankenstrich, Tilde oder Klammer, die in unregelmäßigen Abständen verteilt sind. – Ausschnitt aus dem Buchcover.

Vor ziemlich genau einer Woche erhielt ich ein Mail der Büchergilde. Darin wurden mir als Geschenkidee Bücher zum heutigen Valentinstag vorgeschlagen. Witziger Zufall: Die meisten davon waren Gedichtbände – und alle waren sie Liebeslyrik. Ich will nun der Büchergilde keine Vorwürfe machen – auch sie muss ihre Bücher verkaufen und die Feiertage nehmen, wenn sie fallen. Aber ihr Mail hat mir in Erinnerung gerufen, was Lyrik für die meisten – auch unter den Lesenden – schlechthin darstellt: Liebesgedichte. Das ist an und für sich nichts Schlechtes (tatsächlich habe ich auch alle mir von der Büchergilde vorgeschlagenen Bücher schon gekauft, die meisten hier vorgestellt). Aber gibt es – außer vielleicht noch der Naturlyrik – andere Themen, die von der Lyrik angeschlagen werden könnten?

Natürlich gibt es sie, und der Lyrikpreis München hat eines davon offenbar in seiner Ausschreibung für 2024 vorgeschlagen: Poesie und Technik. Vor mir liegt nun das Resultat in Form einer Buchveröffentlichung aller Gedichte, die am Wettbewerb teilgenommen und es auf die Shortlist geschafft haben. Schon ein erster Blick ins Buch macht klar: Die Ansichten darüber, was Lyrik (oder Poesie, quant à ça) sein kann, sind so vielfältig wie Herkunft oder Ausbildung ihrer Verfasser:innen. Und das ist gut so, zeigt auch, dass die Jury sich nicht auf bestimmte Maßstäbe festlegen mochte.

Dennoch fällt eine gewisse Häufung in der Ausführung auf. Lyrik – der Einleitungsparagraph hat schon versucht, das festzuhalten – ist nicht nur für uns Lesende sondern offenbar auch für die Schreibenden in vielen (den meisten) Fällen Ausdruck einer (inneren) Befindlichkeit des lyrischen Ich (das wiederum mit der schreibenden Person identisch sein kann, aber nicht muss). Nun finden wir hier keine Liebeserklärung an die Maschine und auch keine der Naturlyrik ähnelnde Beschreibung einer solchen. Praktisch alle Gedichte setzen sich auseinander mit dem Gegensatz (oder sagen wir besser: mit der Spannung) zwischen Poesie und Technik. Das kann geschehen, indem Fachbegriffe aus Technik und Naturwissenschaft – die beiden gehen in den hier versammelten Gedichten oft in eins – gesetzt werden, wo naive Lesende eher Begriffe aus der Natur erwartet hätten. Das kann sein, indem ein Gedicht schon fast biografisch den Spuren Alexander von Humboldts folgt. Oder, indem ein Autor in aufsteigender Linie der Anzahl verwendeter Zeichen, Fehlermeldungen aus dem Computer als Gedicht listet. Manche Gedichte gefallen einem besser, andere weniger – wie das halt bei einer Anthologie so ist. Keines fällt aber wirklich ab.

Die Laudatio des Siegers Steffen Popp durch Ulrich Schäfer Newiger, die am Ende des Buchs angehängt wurde, ist nicht nur ein schönes Beispiel literaturkritischer Lyrikanalyse. Sie weist auch – mindestens teilweise – darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit dem Themenkreis Poesie und Technik nicht ganz so neu ist, wie es den Anschein macht. Das Fragmentarische vieler Gedichte – so auch jener des Siegers – findet Schäfer Newiger (nicht zu Unrecht!) wieder bei den Jenaer Romantikern, allen voran Friedrich Schlegel, der auch schon den Vergleich der Dichtung mit der Chemie ins (poetologische) Spiel brachte. Die Romantik war tatsächlich eine Zeit, in der Kunstschaffende bzw. am Wort Arbeitende plötzlich konfrontiert wurden mit einer Wissenschaft, die anfing, die Natur zu ‚entzaubern‘. Die wegen des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts für den durchschnittlichen Menschen zunehmende Unverständlichkeit der Welt, die von den beiden Verlegern Elke und Harald Albrecht in ihrer Einleitung (mit dem bezeichnenden Titel Von magischen Fakten moniert und als bezeichnend fürs 21. Jahrhundert angeführt wird, war tatsächlich schon den Romantikern gegeben.

(Und schon in der Antike stemmte sich Pindar gegen die aufklärerischen Tendenzen, den Göttern dieselben moralischen Übel anzudichten, die bei den Menschen zu finden waren. Mutatis mutandis sehen wir eine ähnliche technologische Krise an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – entsprechende Reaktionen finden wir im Surrealismus und im Expressionismus. Leider scheinen die Ereignisse von vor 100 Jahren weder in der Laudatio noch in den Gedichten der am Wettbewerb Teilnehmenden auf. Das ist dann aber auch der größte Wermutstropfen in dieser Anthologie. Denn dass dieses Jahrhundert an seinem Beginn abermals – zumindest gefühlt – eine ähnliche Krise durchmacht, bleibt unleugbar.)

Dennoch ist der vorliegende Versuch einer Gegenwartsbewältigung bemerkens- und lesenswert. Er hat zumindest mir den einen oder anderen Denkanstoß gebracht.


Die eine rettet die Welt, die andere bewegt sie – was haben Poesie und Technik sich heute zu sagen? Lyrikpreis München 2024. O. O.: Aphaia Verlag, 2024. – Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

Für Interessierte hier noch das Inhaltsverzeichnis bzw. die Auflistung der Poet:innen, die es auf die Shortlist des Preises und damit in dieses Buch geschafft haben:

Einleitung

  • Von magischen Fakten
  • Der Becher des Pythagoras

1. In der Poesie horche ich nach Erlösung
Norbert Lange
Gundula Schiffer
Michele Orru’
Özlem Özgül Dündar

2. Von der Öffnung der Felder
Sigune Schnabel
Wolfram Malte Fues
Annette Hagemann
Clemens Schittko
Alexander Knappe

3. Willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit
Jürgen Brôcan
Hanna K Bründl
Armin Steigenberger
Katrin Pitz

4. Unterordnung der Poesie
Klaus Anders
Fedor Pellmann
Sophie Klink
Sabine Scho

5. Gedichte lieben die Quantenmechanik
Sarah Käsmayr
Martina Kieninger
Andreas Hutt
Hartwig Mauritz
Christian T. Klein

6. PREIS JUNGE LYRIK Wir hätten dann die Revolution gemein
Annabelle Benz PREISTRÄGERIN
Laszlo von Borries PREISTRÄGER
Fiona Fiedler
Gwendolin Gäbler
Mathilda Gulbins
Maja Hohenberg
Nyx Horme
Sarah Jedrezejowski
Paula Schloter PREISTRÄGERIN

7. Hauptpreis und Laudatio
Steffen Popp: Sieben Stufen Nacht
Laudatio: Sieben transzendentale Etüden

Biografien

[Ich verzichte, nebenbei, bewusst auf eine Vorstellung oder Interpretation der einzelnen Gedichte. Anders als Romane oder Erzählungen können Gedichte nur schwer zusammengefasst werden. Ich müsste also jedes Gedicht hier abschreiben – was dem Verlag wohl kaum lieb wäre – oder Interpretationen schreiben, die für die Lesenden im luftleeren Raum hängen. Das wäre zwar auf einer metapoetologischen Ebene nicht unwitzig, war doch das Problem des Vakuums im All von Newton bis Einstein heiß diskutiert und wurde auch von Schriftstellenden aufgenommen – wenn auch vorwiegend männlichen Romanciers, die dem Genre der Science Fiction zugerechnet werden. Was wiederum eine andere Frage aufwirft: Warum werden keine Gedichte – auch diese hier nicht – der Science Fiction zugeordnet?]

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