Allan Janik / Stephen Toulmin: Wittgensteins Wien

Fotomontage: Wittgensteins Kopf in stahlblau nach rechts schauend vor dem in sepia gehaltenen Bild der Anlagen von Schloss Schönbrunn. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Wittgenstein’s Vienna erschien 1973 zum ersten Mal bei Simon & Schuster in New York. 1984 erschien im Carl Hanser Verlag dann die deutsche Version (Übersetzer und Bearbeiter: Reinhard Merkel). Nicht nur Merkel sondern auch die beiden Autoren haben für die deutsche Version Änderungen durchgeführt. Sie sind nicht substantiell, will sagen: betreffen in keiner Weise den Hauptargumentationsstrang. Es handelt sich meist um Dinge, die die Autoren dem US-amerikanischen Publikum (auch Dozierenden und Studierenden der Philosophie!) erklären zu müssen glaubten, die aber deutschen Lesenden selbstverständlich waren. (Ob dem heute noch so wäre?)

Im Hauptargumentationsstrang geht es zusammen gefasst darum, dass Janik und Toulmin die (damals) vorherrschende Rezeption Wittgensteins im anglo-amerikanischen Raum als unzureichend, ja falsch, kritisieren. Dort wird Wittgenstein als Logiker aufgefasst, als Vertreter einer analytischen Philosophie bzw. eines logischen Positivismus im Stile Rudolf Carnaps. Man betrachtet ihn als vom Mond gefallenen Schüler Bertrand Russells – nicht zuletzt jener selber tat dies. Umso größer war dann seine Enttäuschung, als sich sein vermeintlicher Schüler von der Logik ab- und einer weiter gefassten Sprachphilosphie zuwandte.

Janik und Toulmin wollen nun nachweisen, dass dieser Schritt von ‚Wittgenstein I‘ hin zu ‚Wittgenstein II‘ von Anfang an im Denken des Österreichers angelegt war, von den englischen und US-amerikanischen Philosoph:innen aber nicht bemerkt werden konnte, weil sie den kulturellen Hintergrund Wittgensteins nicht kannten: das Wien des frühen 20. Jahrhunderts, bzw. Österreich-Ungarn (das Kakanien Robert Musils) kurz vor seinem Untergang. Dieses Kakanien war in einer Dichotomie gefangen zwischen Konservierung des Alten (im Politischen verkörpert durch Kaiser Franz Joseph I., der schon lange keine Veränderungen mehr vertrug) und – weil es ja in der Politik verboten war – Kritik bzw. Einführung von Neuerungen auf praktisch allen kulturellen Gebieten.

Diese Kritik äußerte sich (nach Janik / Toulmin) in Form einer Kritik an der Sprache bzw. Grammatik des jeweiligen Gebiets: Mach, der sich für eine Neuinterpretation wissenschaftlichen (physikalischen) Denkens und Sprechens einsetzte; Freud, der die Sprache der Seele neu strukturierte in seiner Psychoanalyse; Schönberg (der sich noch mit ‚ö‘ schrieb damals), der die Grammatik und Logik der Musik mit seiner Zwölftonmusik veränderte; die Wiener Moderne (Kokoschka, Klimt) in der Kunst, die zunächst die Dekoration verselbständigten (im Jugendstil), dann mehr und mehr dem Dekorativen abhold wurde; Adolf Loos, der in der Architektur das Ornament für ein Verbrechen hielt und dessen Gedanken von Ludwig Wittgenstein im Haus, das er für seine Schwester entwarf, perfektioniert wurden; die Kritik an der schludrigen Sprache des Feuilletons, gegen die von Karl Kraus in der Fackel praktisch im Alleingang gekämpft wurde; last but not least die Sprachkritik Fritz Mauthners, der in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus namentlich genannt wurde – im selben Atemzug mit der Abgrenzung, dass genau diese Sprachkritik hier nicht gemeint sei.

Dennoch ist Mauthner in vieler Hinsicht wichtig. Zum einen, weil er überhaupt die Idee einer Kritik am (alltäglichen) Sprachgebrauch vorgebracht hatte, dann weil er zwar als Böhme ein Kind Kakaniens war, aber die meiste Zeit in Deutschland gelebt und geschrieben hatte, von wo er auch mit dem Gedankengut der Neukantianer vertraut worden war. Letzteres weist darauf hin, dass a) das kulturelle Leben im deutschsprachigen Teil Österreich-Ungarns natürlich nicht unabhängig von dem Deutschlands war und b) gerade der Neukantianismus im Wien der Jahrhundertwende eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte.

Der Neukantianismus hat mit seiner Abgrenzung von naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftlichem Denken (Windelband!) und seinem Rückgriff nicht nur auf Kant sondern auch auf Schopenhauer das geistige Klima (wenn ich das mal so salopp sagen darf) Wiens stark beeinflusst. Fragen von Ästhetik, Ethik und Erkenntnistheorie liefen in der Folge wild durcheinander. Wittgenstein, der eine Ausbildung als Ingenieur hinter sich hatte (die im deutschen Sprachraum viel mehr Physik, Mathematik und überhaupt Theorie beinhaltet als im angelsächsischen), wollte nun im Tractatus logico-philosophicus versuchen, die seiner Meinung nach offenen Fragen zu beantworten. Janik / Toulmin formulieren das so:

Als Ergebnis dieser Untersuchung kann man festhalten, (1.) daß die Notwendigkeit einer allgemeinen philosophischen Sprachkritik schon 15 bis 20 Jahre bevor Wittgenstein den Tractatus schrieb deutlich empfunden wurde; und (2.) daß die Schwäche von Mauthners erstem Versuch einer umfassenden Sprachkritik eine Schwierigkeit offen gelassen hatten, deren Bewältigung gleichwohl möglich schien, falls die Verbindung der physikalischen Theorien von Hertz und Boltzmann mit der Ethik Kierkegaards und Tolstois in einer konsistenten Abhandlung gelänge. Die Hypothese, zu der unsere Analyse geführt hat, ist einfach die, daß es dieses Problem war, welchen Wittgenstein von Anfang an beschäftigte, und auf dessen Lösung der Tractatus zielte.

S. 227f; Zeichensetzung so im Original

Noch anders gesagt: Die Sätze ab 6.4 des Tractatus sind nicht beliebig hingesetzte, um das Büchlein ein wenig umfangreicher zu gestalten, sondern tatsächlich das Ziel, auf das Wittgenstein hinauswollte. Da er als Ingenieur keine Möglichkeit sah, über Fragen der Ethik oder Ästhetik sinnvollerweise zu sprechen, empfahl er, darüber zu schweigen. Er behauptete aber nicht, dass diese Fragen bzw. diese Themenbereiche nicht existierten – ganz im Gegensatz zum logischen Positivismus. Und die Formulierung Worüber man nicht sprechen kann ,[meine Hervorhebung] lässt es durchaus offen, dass es andere „mans“ geben mag, die darüber eben sprechen können (ohne Unsinn zu erzählen nämlich), namentlich eben Mystiker bzw. mystische Denker im Stil Kierkegaards und des späten Tolstoi. Ja, man könnte Wittgenstein in gewissem Sinn auch einen Mystiker nennen – einen, der schweigt.

Dass er, als er später wieder zu philosophieren begann, in den Philosophischen Untersuchungen jedes Mal, wenn er auf Fragen ethisch-moralischen Verhaltens kam, nur Banales anzuführen hatte, zeigt, dass sich der junge Wittgenstein gar nicht übel selber eingeschätzt hatte.

Anders, und von mir zusammengefasst: Wittgenstein sah sich in der Kultur, in der er heranwuchs, von allen Seiten mit Fragen zum Sinn des Lebens und der eigenen Tätigkeiten konfrontiert. Als naturwissenschaftlich geschulter Ingenieur interessierten ihn aber weder Fragen der Erkenntnistheorie noch welche von Ethik oder Ästhetik – besser gesagt: Ethik und Ästhetik interessierten ihn durchaus, aber er fand keine Sprache, darüber zu sprechen. Er wuchs in einer neukantianisch geprägten Atmosphäre auf, was dazu führte, dass er sein Leben lang versuchte, die Fragen, die der Neukantianismus in ihm geweckt hatte, zu lösen – dies aber als Ingenieur, will sagen: ohne Rückgriff auf die Sprache Kants bzw. des Neukantianismus.

Die anglo-amerikanische Tradition aber, die sich bestenfalls und auch nur zu Beginn, eher mit Bradleys Hegelianismus auseinanderzusetzen hatte (Russel, Whitehead, Moore) und bis heute den Neukantianismus ignoriert, versuchte, ihre Probleme im Rückgriff auf David Hume zu lösen. Damit, so das Fazit von Janik und Toulmin, scheiterte sie aber ihrerseits daran, Wittgenstein zu verstehen – der sich selber nie auf Kant bzw. den Neukantianismus bezog, aber noch weniger Humes Zugang zu diesem Themenbereich kannte. (Wittgenstein kannte sehr wenige ‚klassische‘ Texte der Philosophie; Augustinus stellte da eine bezeichnende Ausnahme dar.)

Dies will das Buch korrigieren. Es bewegt sich irgendwo zwischen Kultur- und Philosophiegeschichte und richtet sich an professionell Philosophierende ebenso wie an kultur- oder philosophiegeschichtlich Interessierte. Über weite Strecken tritt Wittgenstein völlig in den Hintergrund. Die jeweilige Geschichtsschreibung mag heute im einen oder anderen Punkt zu anderen Schlüssen gelangt sein – als Einführung ist das Buch immer noch empfehlenswert. Leider ist es mittlerweile vergriffen und so weit ich sehen kann, pflegen die anglo-amerikanischen Philosoph:innen nach wie vor den alten Zugang.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert