Wolf von Niebelschütz: Die Kinder der Finsternis

Ausschnitt aus einem für das Buchcover verwendeten Gemälde, vielleicht aus dem 14. Jahrhundert. Eine riesige Armee marschiert bzw. reitet von links nach rechts durchs Bild. In der Mitte ist gerade eine kleine Lücke, durch die man im Hintergrund etwas Landschaft sieht – grünes Gras und braune Wege.

Wolf von Niebelschütz halte ich für den unbekanntesten aller berühmten Autoren der deutschen Nachkriegszeit. Allenfalls teilt er sich diesen Platz mit Albert Vigoleis Thelen. Die relative Unbekanntheit liegt in Niebelschütz’ Fall nicht nur an seinem frühen Tod. Es spielt wohl auch der Umstand hinein, dass er sich dem gängigen Literaturbetrieb verschloss. Ich kann nicht sagen, ob die Gruppe 47 und er von einander Kenntnis hatten. Selbst wenn das der Fall war: Niebelschütz’ opulente Art zu schreiben, ohne sich offenbar um die Gegenwartsprobleme der jungen BRD zu kümmern oder eine Aufarbeitung der Nazi-Zeit und des Zweiten Weltkriegs – das war nicht das, was sich Verlage und Literaturkritik im Allgemeinen in den 1950ern als ‚wertvolle‘ Literatur vorstellten.

Andererseits müsste man heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später und in einer Zeit, in der die damaligen Großen so viel kleiner erscheinen, sein Augenmerk wieder auf ihn richten können. Er ging ja nie ganz verschollen, aber er ist und bleibt offenbar ein Geheimtipp.

Vor mir liegt ein dickes (ziemlich genau 700-seitiges) Taschenbuch (mit Farbschnitt auf allen Seiten!). Das ist in einer Zeit, in der selbst kurze Dramen von Lessing auf YouTube in fünf Minuten zusammengefasst werden, weil das Publikum keine Ausdauer mehr hat, natürlich viel zu lang. Zumal Niebelschütz praktisch mit jedem seiner Sätze die Handlung des Romans voran treibt – da sind keine langwierigen Landschaftsbeschreibungen oder andere Exkurse, die man überblättern könnte. Aber welch eine Sprache!

Nehmen wir gleich den ersten Satz, einen der schönsten Anfangssätze der Weltliteratur:

Es lag ein Bischof tot in einer Mur am Zederngebirge fünf Stunden schon unter strömenden Wolkenbrüchen.

Beschwingt und federnd, im Klang an mittelalterliche Minne-Lyrik erinnernd und an Märchen – beides Textsorten, die im Laufe des Romans eine Rolle spielen.

Erzählt wird die Lebensgeschichte von Barral, dem Dachs von Ghissi. Unehelich in der Folge einer Vergewaltigung zur Welt gekommen, kämpft er sich (im wahrsten Sinn des Wortes) nach oben, bis er zum Herrscher seiner Heimat, der Provinz Kelgurien, geworden ist. Die Ortsnamen der Gegend sind alle erfunden, die Orte selber entsprechen aber realen Gegebenheiten und können zugeordnet werden. So ist Kelgurien das südliche Arelat, ein Teil des damaligen Königreichs Burgund. Auch Barral ist eine fiktive Gestalt, die übrigen kirchlichen und weltlichen Herrscher, die vorkommen, gab es aber wirklich – ihre Streitereien mit Gegenkaisern und Gegenpäpsten inklusive.

Ich wurde unter der Lektüre des Romans des öfteren an den Teppich von Bayeux erinnert, in seiner Fülle an Details und Geschichten. Selbst die Zeit stimmt in etwa: Barral lebte, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, von 1101 bis 1177. Da lesen wir von Kreuzzügen, aber auch von friedlichen Kontakten mit Muslimen, von antisemitischen Handlungen aber auch von Handelsbeziehungen mit Juden, von Liebe aber auch von Gewalt. Eine Zusammenfassung will ich gar nicht erst versuchen.

Wie viel in diesem historischen Roman historisch korrekt ist, spielt eigentlich keine Rolle. Die Heilkunst war bei den Muslimen wohl wirklich weiter entwickelt als in den christlichen Reichen. Ob aber Herrscher aus christlichen Gegenden nach schweren Verletzungen zu den Sarazenen wanderten, um sich dort operieren zu lassen, weiß ich ganz einfach nicht. Dass sie bei ihrer Rückkehr von der Inquisition ergriffen und gefoltert wurden, kann aber nicht stimmen, denn die Inquisition ist eine ‚Erfindung‘ des Spätmittelalters – sprich: Sie entstand erst Anfang des 13. Jahrhunderts. Auch halte ich es für übertrieben, wenn Niebelschütz das Mittelalter, wie im Romantitel impliziert, als Zeit der Finsternis betrachten sollte. (Allerdings wird das im Text selber nicht thematisiert.) Wir wissen heute, dass das Mittelalter nicht ganz so rückständig war, wie es von den Humanisten aus sehr egoistischen Gründen später dargestellt wurde.

Aber das sind nur kleine Wermutstropfen, winzige Details über das Ganze der 700 Seiten gesehen. Niebelschütz’ Roman gehört definitiv zur Weltliteratur und steht gleichberechtigt neben denen von – zum Beispiel – Thomas Mann. Auf dem hinteren Buchdeckel sind einige Stimmen zu diesem Roman versammelt – Stimmen, die natürlich das Produkt loben, aber für einmal zu Recht. So findet Hans Wollschläger, dass Bücher wie dieses auf der Welt(!) nur alle paar Jahrzehnte entstehen. Deutschlandradio Kultur rühmt die Urgewalt einer Sprachkunst, die ihresgleichen sucht. Die Wiener Zeitung hingegen hat einen gefunden, der ebenso sprachgewaltig ist, meint aber:

Wolf von Niebelschütz schreibt so gut wie Thomas Mann, bloß lustiger, gezierter, lebendiger und schockierender.

Dem habe ich nichts hinzuzufügen, höchstens noch im Sinne jener Literaturkitikerin-Darstellerin: „Lesen!“


Wolf von Niebelschütz: Die Kinder der Finsternis. Zürich / Berlin: Kein & Aber, 2010 / 2016.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 48

1 Reply to “Wolf von Niebelschütz: Die Kinder der Finsternis”

  1. Großartig, dass jemand diesem Buch seine Lebenszeit gewidmet hat. Vielen Dank an den Autor P.H. der Rezension! Ich habe die Sprache von Wolf Niebelschütz als expressionistisch und die Worte dicht gedrängt in Erinnerung. Wie die Anweisungen in einem Filmdrehbuch für einen Fritz-Lang-Film, knapp, sparsam und mit der richtigen Beleuchtung im Sinn — allerdings in ungewöhnlicher Farbenpracht. So habe ich das Buch wie einen endlosen Film gesehen, mit großartigen Szenen bei Tournieren, kriegerischen Auseinandersetzungen und der späteren Geißelung Barrals sowie mit Kabinettszenen bei seinem Freund, dem Juden, und den Verhandlungen vor der Inquisition. Wer die Vorarbeiten Niebelschützens zu diesem historischen Roman würdigen möchte, empfehle ich einen Besuch des Marbacher Archivs. Dort wird sein Nachlass aufbewahrt und Teile davon in der Dauerausstellung gezeigt.

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