Shlomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel

Man kann diesem ausnehmend informativen und klugen Buch nur viele Leser wünschen – vor allem und besonders in Israel. Allerdings wird dort Shlomo Sand als Nestbeschmutzer betrachtet, wie das oft mit jenen zu geschehen pflegt, die sich dem allgemein anerkannten und nicht weiter hinterfragten Narrativ zu widersetzen versuchen.

Wie schon in seinem letzten Buch, in dem er den Mythos des „reinen“ Volkes ad absurdum führte, ist es ihm auch hier um eine historisch korrekte Aufarbeitung der Erzählung von der sehnsuchtsvollen Rückkehr ins „Heilige Land“ zu tun, eine Rückkehr, die bis Ende des 19. Jahrhunderts nie ein Thema war und von den Orthodoxen sogar als Sakrileg angesehen wurde: Denn man könne (und dürfe) das Kommen des Messias nicht erzwingen wollen und erst nach dessen Erscheinen stünde das Land den Juden zur Verfügung (im übrigen ist nirgendwo von Land-„Besitz“ die Rede: Das Land ist Gottes Eigentum und steht seinem Volk unter der Bedingung eines gottgefälligen Lebens zur Nutzung zur Verfügung).

Und so war es die Orthodoxie, die sich den zionistischen Bestrebungen anfangs widersetzte. Die Idee eines Nationalstaates hatte nichts mit der Religion zu tun, sehr wohl aber mit der Entwicklung des Nationalismus im 19. Jahrhundert. Erst in diesem Rahmen konnte die Idee vom eigenen Land Früchte tragen, wobei die meisten Juden Westeuropas mit einem solchen Staat nichts anfangen konnten: Fühlten sie sich doch als Franzosen, Deutsche oder Engländer – aber nicht als Juden. Als jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in Russland eine judenfeindliche Pogromstimmung entstand, fanden sich erste Siedler für eine „Rückkehr“ nach Palästina. Allerdings wurden schon um 1900 erste warnende Stimmen vernommen, die auf die dort anwesenden Araber und die zu erwartenden Schwierigkeiten hinwiesen. Denn wie sollte ein „Recht“ auf diesen Landstreifen begründet werden? Seit 700 n. u. Z. gab es dort keine nennenswerte jüdische Gemeinschaft mehr – und das „auserwählte Volk“ selbst hatte (wie im AT nachzulesen) die dort wohnenden Stämme erst vertrieben. Man konnte nicht gut die eigene Eroberung mit einem Anspruch auf das Land verbinden, anderen Eroberungen aber einen solchen Anspruch aberkennen.

Einen Einschnitt in der Entwicklung des Zionismus stellte die Balfour-Erklärung von 1917 dar: Zum ersten Mal konnten sich die jüdischen Siedler eine berechtigte Hoffnung auf einen eigenen Staat machen. Dass die Erklärung im Grunde ein diplomatischer Winkelzug der Engländer war (die während des Ersten Weltkrieges den ganzen Nahen Osten unter sich und den Franzosen aufteilten und die Juden als ihnen freundlich gesonnen betrachteten, sodass der englische Einfluss weiterhin Bestand hätte), war von nachrangiger Bedeutung. Man begann Land aufzukaufen (allerdings waren noch 1948 89 % des den Juden zugestandenen Landes im Besitz der Palästinenser, wobei der Erwerb der restlichen 11 % vor allem durch riesige Gebietskäufe bewerkstelltigt wurde, die im Besitze reicher Effendis waren und wodurch die dort seit Jahrhunderten bauenden Fellachen vertrieben wurden), der Zuzug der europäischen Juden aufgrund des sich ausbreitenden Faschismus verstärkte sich und man konnte auf finanzielle Unterstützung seitens reicher Juden (Rothschild) zählen. Nie war man aber an der Integration der dort lebenden Araber interessiert: Während in Deutschland die Bevölkerung aufgefordert wurde, nicht bei Juden zu kaufen, gab es in Palästina die gleichen Bestrebungen. Nur dass hier der Handel mit den einheimischen Kaufleuten unterbunden wurde, um eine ökonomische Verflechtung zu vermeiden, was eine ins Auge gefassten Vertreibung erschwert hätte.

Das den Juden 1948 schließlich zugestandene Land (ohne den Holocaust wäre diese Resolution nie möglich gewesen) bedeutete, dass zu diesem neuen Staat auch 400 000 Palästinener zu zählen waren. Die Grenzen wurden akzeptiert, aber bereits im jüdisch-arabischen Krieg von 1948 ausgeweitet, 1967 kamen schließlich das Westjordanland, die Golanhöhen und der Gazastreifen hinzu (nur die ebenfalls besetzte Sinai-Halbinsel wurde im Camp-David-Abkommen wieder geräumt). Da der jüdische Staat auf seine „historischen“ Wurzeln in der Bibel rekurrierte (und dort der liebe Gott sich über die Grenzen des Landes für das auserwählte Volk recht unklar äußerte – manchmal wurde das verheißene Land bis Damaskus oder gar an den Euphrat ausgedehnt), betrachtete man diese Gebietsgewinne als Abrunden des „historischen“ jüdischen Landes und schuf – vor allem mit der sofort einsetzenden Siedlungspolitik – eine völlig unlösbare Situation, die bis heute andauert. Sand betrachtet vor allem die Gebietsgewinne von 1967 als eine Versuchung des Schicksals für Israel, eine Versuchung, der sie vor allem aus religiösen Gründen nachtgegeben hätten. Seither ist die Lage ausweglos: Das Angebot der arabischen Staaten von 2002, mit Israel normale diplomatische Beziehungen aufzunehmen, musste schon deshalb ignoriert werden, weil damit natürlich der Rückzug aus den besetzten Gebieten verbunden gewesen wäre. Ein Rückzug, der aufgrund der historisch-religiösen Indoktrinierung zu dieser Zeit bereits von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wurde. Was bleibt ist ein unlösbarer Konflikt, eine Apartheitspolitik, die faschistoide Züge angenommen hat, die Palästinenser als Bürger zweiter Klasse behandelt und ein mehr als fragiler Frieden, der nur auf militärischer Hochrüstung basiert und jederzeit in einen flächendeckenden Krieg münden kann.

Sand ist einer der wenigen israelischen Historiker, der sich seiner eigenen Geschichte kritisch nähert. Er ist nicht jemand, der das Existenzrecht Israels bestreitet, sondern auf die Rechte der unterdrückten und vertriebenen Bevölkerung hinweist. Seine Forschungen werden in Israel mit großem Misstrauen und entsprechender Distanz betrachtet, auch „jüdischer Selbsthass“ wird ihm vorgeworfen. Dieser Vorwurf des Antisemitismus an einen Juden ist der untaugliche, weil ohne Argumente agierende Versuch, die eigene Geschichte umzudeuten und umzulügen. Trotzdem sind solche mahnenden und humanen Stimmen ungeheuer wertvoll, weil sie von einem – wenn auch nur kleinen – Teil Israels zeugen, der seine Existenz nicht einzig mit Waffengewalt durchsetzen will. Allerdings ist die Vernunft ein seltener Gast im Nahen Osten: Ob bei Arabern oder Israelis. Dem Buch ist – wie einleitend erwähnt – eine möglichst große Leserschaft zu wünschen: In der verqueren Hoffnung, dass diese leise, aber mit Nachdruck vorgebrachte Mahnung für ein Zusammenleben verstärkt gehört wird.


Shlomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel. Berlin: Propyläen 2012.

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