John Brunner: Der Schockwellenreiter

21. Jahrhundert in den USA: Die Regierung überwacht das Leben ihrer Bürger durch ein Datennetz, Korruption und wissenschaftliche Experimente am Menschen werden geheimgehalten, die Bürger sind ausnehmend mobil (im Sinne des Staates), sodass sie nirgendwo heimisch werden können. Psychische Probleme (insbesondere bei Kindern) werden durch Trauma-Kliniken behandelt, ansonsten gibt es Glückspillen. Einzig einige Ortschaften in dem durch ein Erdbeben vollkommen zerstörten Kalifornien haben sich teilweise dieser staatlichen Einbindung entziehen können.

Verschiedene Organisationen sind für diese totale Überwachung zuständig, in ihnen werden hochbegabte Kinder ausgebildet, um später dem Staat dienen zu können. Einer von ihnen ist Nick Haflinger, der von den „Scouts“ zufällig entdeckt wird und eine teure Ausbildung erhält. Doch im Laufe der Zeit wächst seine Skepsis gegenüber der Organisation und schließlich flieht er unter der Annahme einer neuen Identität aus der „Tarnover“ genannten Institution. Er kann lange durch seine profunden Computerkenntnisse unerkannt bleiben, wird aber schließlich doch entdeckt und flieht mit Kate (einer jungen, ebenfalls nonkonformen Studentin) nach „Abgrundsdorf“, einen jener nach dem verheerenden Erdbeben neu gegründeten Orte, wo er zufällig dann doch entdeckt und dem Tarnover ausgeliefert wird.

Dort – und diese Befragungen machen den größten Teil des Buches aus und rekapitulieren so den Werdegang von Nick – wird er in einen semi-bewusstlosen Zustand versetzt, in dem er sein ganzes Tun dem Verhörspezialisten Freeman erzählt. Als dieser „regressive“ Zustand eine Gefahr für die Gesundheit Nicks darzustellen beginnt, kehrt man zu herkömmlichen Verhörmethoden zurück. Freeman, der eine ähnliche Karriere wie Nick gemacht hat, wird zusehends verunsichert durch die Ansichten Nicks (er ist der „Schockwellenreiter, wobei sich Brunner dabei auf ein einflussreiches Buch von Alvin Toffler: „Future Shock“ bezieht), die Verhaftung Kates bringt ihn schließlich auf die andere Seite und er verhilft den beiden zur Flucht und zu einer neuen Identität.

Nun macht sich Nick daran, einen Computerwurm (Brunner war hier namengebend für die Würmer der Internetzeit) zu programmieren: Dieser befällt das Computernetz und lässt alle Menschen auf bisher geheim gehaltene Daten zugreifen. Menschenversuche, Korruption und Betrug werden offenkundig, die eilends getroffenen Maßnahmen können das Datenleck nicht schließen, auch Versuche, Nick und Kate bzw. ihrer Unterstützer aus Abgrundsdorf (Desasterville ;)) zu ermorden, scheitern. Über das Netz wird die Bevölkerung zu einer Abstimmung über die zukünftige Politik aufgerufen: Und genau hier bricht der Roman ab, er endet mit einer Frage – „nun was haben Sie gewählt?“

Ein kluges Ende eines weitgehend klugen Buches, das den utopischen bzw. dystopischen Platitüden geschickt entgeht. Beeindruckend die Weitsicht des Autors, der sehr viele Fragen, die erst in unserer Zeit aktuell wurden, voraussieht. Die Transparenz von Personen, die ihre Daten in ein Netz einspeisen und selbst schließlich keinen oder nur eingeschränkten Zugriff auf diese Daten haben, deren Nutzung durch mächtige bzw. staatliche Organisationen (die natürlich vorgeben, nur das Menschenwohl im Auge zu haben), die Ohnmacht des einzelnen, sich dem zu entziehen. Und auch die Versuche, genetisch manipulierte Übermenschen zu erzeugen (allerdings eingebunden in eine etwas krude Wissenschaftskritik) waren für das Jahr 1975 (dem Erscheinungsjahr) visionär. Dass die Geschichte selbst einem eher gängigen Strickmuster gehorcht (Einzelkämpfer nebst Geliebter besiegt eine Übermacht) tut dabei dem Lesevergnügen keinen Abbruch: Im Gegensatz zu Clarke oder Ballard vermeidet Brunner (zumeist) die üblichen Klischees einer Menschheit, die für ihr Glück nur einen kleinen Rousseauschen Anstoß braucht (und die Eliminierung des Leviathans), um einander liebend in die Arme zu fallen. Ein beeindruckend weitsichtiges und kluges Buch.


John Brunner: Der Schockwellenreiter. München: Heyne 1979.

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