2021 jährt sich der Geburtstag von Heinrich Mann zum 150. Mal. Aus diesem Anlass erschien bei S. Fischer dieses Jahr Manns Roman Der Untertan in einer neuen Ausgabe, mit einem Nachwort und Materialienanhang von Ariane Martin – Leinen mit einer Art Bauchbinde als „Schutz“-Umschlag, Fadenheftung, Lesebändchen, nicht ganz 640 große und großzügig bedruckte Seiten.
Über den Roman viele Worte zu verlieren, heißt Eulen nach Athen tragen. Es handelt sich um wohl den besten Roman Heinrich Manns – was bei diesem ausgezeichneten und auch produktiven Autor einiges bedeuten will. Die Geschichte des Spießbürgers Diederich Heßling zeichnet mit satirischer Verve die Karriere eines Opportunisten im wilhelminischen Reich. Doch die Bedeutung des Romans geht über die wilhelminische Epoche hinaus. Heßling, der gegen außen so sehr auf Anstand und Ehrlichkeit pocht, selber aber, wo immer es möglich ist, ohne erwischt zu werden, die Tatsachen verfälscht und faule Tricks anwendet, um seine Karriere voran zu treiben, ist ein Typus, der nicht nur im Kaiserreich existierte. Mutatis mutandis (vor allem sind heute politische und berufliche Karriere getrennt, anders als zu Heßlings Zeit – Berufspolitiker ausgenommen wird heute den Wirtschaftskarrieristen die Politik nicht mehr reizen) gibt es diese Heßlings auch heute noch. Denn dieser Charakter ist unsterblich. Der Beweis? Lesen wir die ersten Zeilen des Buchs.
Der Roman weist einen der meiner Meinung nach genialsten Anfänge der Literaturgeschichte auf:
Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.
Außer der Sache mit den Ohren, die sich bei Heßling verliert (dafür in etwas anderer Form sich bei einem anderen Charakter manifestiert), wird dies zumindest im Geheimen der entscheidende Charakterzug des Untertanen sein und bleiben. Die Weichheit gehört für Heinrich Mann zusammen zu dem Umstand, dass auf Heßling Macht bzw. Machtausübung eine seltsame Faszination ausübt. Macht auszuüben, aber ebenso Macht an sich ausgeübt zu bekommen, kann ihn in eine Ekstase versetzen, die auch, aber nur noch zu einem geringen Teil, sexueller Natur ist. Er ist gleichzeitig Sadist und Masochist – und dies, wie gesagt, in einer weit umfassenderen Bedeutung als der rein sexuellen. Wenn ich heute von Dominas lese, dass ihre Kunden erfolgreiche Manager in hohen Positionen in der Wirtschaft sind, kommt mir jedes Mal Heßling in den Sinn.
Soll man sich aber nun diese nicht gerade billige (wenn auch, wie geasgt: schöne) Ausgabe zulegen? Sie ist trotz der Materialien keine kritische. Die wäre, so die Herausgeberin, durchaus ein Desiderat – aber in Anbetracht der Tatsache, dass dafür zuerst eine Menge an Notizbüchern Manns ausgewertet werden müssen, um Spuren und Vorstufen zum Roman zu finden, nicht etwas, das so rasch geleistet werden kann (und wird).
Fotos von Notizbüchern und Erstausgaben faszinieren den Sammler, bringen aber per se keinen Erkenntnisgewinn.
Aber die eigentlichen Materialien sind tatsächlich interessant. Die eine oder andere kurze Notiz, die als Vorstufe und Gedankensammlung Manns gewertet werden kann, steht neben Briefen von FreundInnen und an welche, in denen Mann über den Untertan sinniert. Heute, runde 100 Jahre nach dem Ersterscheinen, sind solche Vorstufen und Überlegungen immer noch interessant. Ebenso wie späteren Briefe, in denen wir die Rezeption des Werks zu Heinrich Manns Lebzeiten nachverfolgen können: Rezensionen, aber auch Briefe. Neben dem Bruder Thomas (und, später, dem Neffen Klaus) ist es von bekannten Namen vor allem Schnitzler, der in der Entstehungsphase immer wieder reagiert. Stefan Zweig, Kurt Tucholsky (der begeistert ist), Erich Mühsam, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht … Briefe, in denen über Verfilmungen diskutiert wird. Querelen mit den Verlegern.
Last but not least: Wir können hier nachlesen, wie nach dem Ersten Weltkrieg dem Roman bzw. dem Autor eine prophetische Gabe zugesprochen wurde. Und nach dem Zweiten Weltkrieg gleich noch einmal – was Heinrich Mann zur ironischen Aussage verführte, dass die Deutschen nach jedem Krieg, den sie angefangen und zum Schluss verloren hätten, seinen Untertan neu auflegen und neu schätzen würden.
Ich habe oben gefragt: Soll man sich aber nun diese nicht gerade billige (wenn auch, wie schon geschrieben: schöne) Ausgabe zulegen? – Die Antwort ist einfach: Ja. Auch wenn Deutschland gerade keinen Krieg angefangen oder verloren hat.