Helmut Ortner: Widerstreit. Über Macht, Wahn und Widerstand

Bericht zur Lage der Nation wurde in der Zeit des Kalten Kriegs ein Ritual genannt, das der Bundeskanzler der BRD zusammen mit dem Bundestag einmal jährlich durchführte, und das vor allem das Verhältnis der beiden deutschen Staaten betraf. Nachdem 1989 die DDR an die BRD angeschlossen worden und somit der Anlass dazu hinfällig geworden war, wurde darauf verzichtet. „Bericht zur Lage der Nation“ könnte man auch den vorliegenden Band mit Essays von Helmut Ortner bezeichnen. Denn in vielen, wenn auch nicht allen, der hier versammelten Artikel geht es um Deutschland. Einige der Texte wurden bereits früher in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, einige werden hier zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert.

In sechs Abteilungen geht es immer wieder um die Politik, oft oder meist um die deutsche Politik. In einem Vorwort (betitelt Gegen Demokratie-Verachtung) plädiert der Autor für eine offene Gesellschaft, die von Veränderungen lebt, Veränderungen braucht, und deshalb auch immer eine neue Aufklärung braucht. Popper und Voltaire sind hierin Ortners große Vorbilder.

Der erste eigentliche Essay dann, Keine Stunde Null, in der ersten Abteilung, Volk und Widerstand thematisiert das neue Phänomen des »Querdenkers« und seines Gegners. Mit beiden kann Ortner nichts anfangen, hält beide für eine Gefahr der Demokratie. Er nennt sie die Contra-Bürger: Auf dem Weg in die »Corona-Diktatur« bzw. die PRO-Bürger: Der Staat soll Vormund sein und hält den beiden Ausprägungen den Verfassungs-Bürger: Grundrechte verteidigen, um Kompromisse kämpfen entgegen. So sieht er in der aktuellen Weise, wie Angela Merkel Staat und Volk durch die so genannte Corona-Krise zu führen versucht – nämlich, indem sie zusammen mit einer Konferenz der 17 Regierungsoberhäupter der Bundesländer die jeweiligen Lösungen und Beschränkungen festlegt –, zwar keine »Corona-Diktatur«, aber durchaus ein verfassungsrechtliches Problem, das angesprochen werden sollte, ohne gleich von einer Diktatur zu schreien, nämlich: dass so ein Gremium in der deutschen Verfassung gar nicht vorgesehen sei und deshalb eigentlich verfassungswidrig ist. Denn die deutsche Verfassung kennt offenbar keinen Notrechtsartikel wie die Schweiz, wo festgehalten ist, dass die Bundesregierung in Notfällen wie einer Pandemie Verordnungen erlassen darf, die kantonales Recht und kantonale Hoheit für einen bestimmten Zeitraum übersteuern dürfen. Die deutsche Verfassung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg absichtlich so erstellt, dass es nie mehr möglich sein sollte, dass eine Zentralregierung alle Macht an sich reißen konnte, wie der der Weimarer Republik geschehen war. (Man konnte damals den Fall einer Pandemie in Europa nicht vorher sehen.) Diesen historischen Aspekt lässt Ortner für einmal bei Seite, wie er überhaupt wenig analysiert oder weiterführt – seine Sache ist das Aufzählen von Fakten, ohne Kommentar.

Das ist im Folgenden gut, wenn er (wie in den Essays des Abschnitts Volk und Widerstand die Rolle der deutschen Justiz im Dritten Reich und im der Niederlage im Zweiten Weltkrieg folgenden Wiederaufbau beleuchtet. Er braucht nur Namen zu nennen, und Funktionen, um das erschreckende Bild zu zeichnen, wie (mit sehr, sehr wenig Ausnahmen) Richter, die im nationalsozialistischen Deutschland Karriere gemacht hatten, skrupellos Todesurteile verhängt hatten, in der Adenauer-Zeit rasch wieder in ihre alte Funktion eingesetzt wurden, und ihre Karriere weiterverfolgen durften. Ohne geschultes Personal, war die Meinung bis hinauf zu Adenauer persönlich, wäre ein reibungsloses Funktionieren des Justizapparates und damit des jungen BRD nicht gewährleistet. Dazu kam, das die beiden Standard-Entschuldigungen der belasteten Richter offenbar weithin akzeptiert wurden: Sie hatten ja nur – sagten sie – geltendes Recht angewendet und überhaupt den Job nur angenommen, um Schlimmeres verhindern zu können. Allesamt also kleine, heimliche Widerstandskämpfer. Dass solche Leute in der BRD ungehindert Karriere machen und es bis zum Minister-Präsidenten eines Bundeslandes (Filbinger) oder gar Bundeskanzler (Kiesinger) bringen konnten, ist für Ortner bis heute ein riesiger Stein des Anstoßes. (Nicht, dass er die Meinung vertritt, in der DDR sei es besser gelaufen. Auch da weiß man, dass viele ‚belastete‘ Richter wieder in Amt und Würde gesetzt wurden.)

Dieser erste Abschnitt ist meiner Meinung nach der bedeutend wichtigste und beste der Sammlung hier. Es folgen unter dem Titel Gott und Staat einige Aufsätze zur trotz in der Verfassung anders geregelten Richtlinien bis heute engen Verbindung von Kirche und Staat in Deutschland, von der vor allem die Kirchen finanziell profitieren, sowie ein Essay zum Umstand, dass die heutige Linke bei islamistischem Terror immer noch die Augen verschließt und Leute, die den Islam für seine im den so genannten Schwert-Versen geforderte Gewalttätigkeit gegenüber Andersgläubigen kritisieren, gern als „Rassisten“ markiert. Leben und Tod verlässt Deutschland – es geht in diesem Abschnitt um die Todesstrafe, die nach wie vor in vielen Ländern ausgesprochen und vollzogen wird, vor allem auf der arabischen Halbinsel und generell in Diktaturen. Allerdings gibt es auch so genannte westliche Demokratien, die sie nach wie vor verhängen und ausführen – allen voran die USA, aber zum Beispiel auch Japan. Ortner, wie man erraten kann, ist ein Gegner der Todesstrafe, auch wenn er zugeben muss, dass bis heute keine Statistik beweisen kann, ob nun die Existenz einer Todesstrafe in der jeweiligen Rechtssprechung eines Landes die Zahl der Verbrechen vermindert oder ob es deren Abwesenheit ist, die diesen Effekt hat. Eine Abschreckung, wie vor allem rechtskonservative Politiker à la Trump und Erdoğan in allen Ländern immer wieder behaupten (und die rechtskonservativen Bürger:innen es ihnen nachplappern), kann jedenfalls nicht festgestellt werden. Der letzte Abschnitt, Krieg und Frieden behandelt die weltweit zunehmende Aufrüstung der Länder und die Rolle der deutschen Rüstungsindustrie darin.

Diesem letzten Abschnitt zugeordnet ist auch der abschließende Essay, Alles wird schlimmer, oder …?, in dem Ortner – etwas überraschend, wenn man die vorher gehenden Essays gelesen hat – festhält, dass es, allem Bauchgefühl zum Trotz, gerade nicht so ist, dass alles immer schlimmer wird. Anders, als unser Gefühl es wahr haben will, hat die Gewaltkriminalität seit den 1990ern markant abgenommen; ebenfalls hat sich der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, in diesem Zeitraum halbiert und auch die Zahl der jungen Mädchen, die eine Ausbildung fertig machen dürfen, vergrößert sich stetig. Ortner plädiert deshalb zum Schluss dieses Buchs für ein Prinzip Hoffnung, denn die Aufklärung, die er für unentbehrlich hält, sei trotz allem auf dem Vormarsch, weshalb sich der Einsatz für sie unter dem Stricht halt doch lohnt.

Zusammenfassend kann ich sagen: Inhaltlich bringt Ortner in diesem Buch nichts Neues. Man kennt die Fakten, die er anführt seit langem. Ortner bleibt aber dennoch klugerweise dabei, vor allem so zu arbeiten, dass er nur Fakten anführt. Die Menge der Fakten, die er vorbringt, spricht jeweils für sich und lässt weitere Ausführungen überflüssig erscheinen. In diesem Buch nichts Neues also – aber Wichtiges. Auch für Menschen, die nicht in Deutschland leben.


Helmut Ortner: Widerstreit. Über Macht, Wahn und Widerstand. Frankfurt/M: Nomen Verlag, 2021

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