Der junge Autor Edgar Allan Poe versuchte so einige verschiedene Dinge, um im Literaturbetrieb seiner Zeit Fuß fassen zu können. Vor allem nahm er an Ausschreibungen teil, bei denen Zeitungen oder Zeitschriften einen Preis auslobten für die beste eingereichte Kurzgeschichte. (Ein paar Mal gewann er auch.) Daneben plante er eine Sammlung satirischer Geschichten, die er mit einem ebenso satirischen Rahmen umfassen wollte: Die Erzählungen des Folio Club. Elf Geschichten sollte dieses Werk umfassen, erzählt von den elf Mitgliedern des Folio Club.
Der Rahmen ist im Prinzip so originell nicht. Einerseits gab es in den USA jener Zeit tatsächlich einige Clubs mit ähnlich seltsamen Gewohnheiten wie sie der Folio Club aufweist. Der Umstand, dass man sich gegenseitig eigene Geschichten vorlas, gehörte bei solchen Clubs ebenso oft zum Usus wie, dass man für sich seltsame Übernamen aussuchte, die bei den Sitzungen jeweils verwendet wurden. Andererseits gab es diese Clubs auch bereits in der US-amerikanischen Literatur, vom großen deutschen Vorbild der Serapionsbrüder von E. T. A. Hoffmann (das Poe zumindest aus Kritiken ganz sicher kannte) ganz zu schweigen. Nur die Wendung ins Satirische war wohl Poes eigene Zutat.
Die Erzählungen des Folio Club wurden sogar zur Subskription ausgeschrieben, aber Poe zog diesen Aufruf wieder zurück. Warum wissen wir nicht. Die meisten Geschichten verwertete er später einzeln, gewann so auch Preise damit. Die bekannteste davon ist wohl MS. Found in a Bottle, das als die beste seiner frühen Horror-Geschichten gilt. Gerade hier aber ist es interessant, den Ursprung der Geschichte (bzw. ihre ursprüngliche Einbettung) zu sehen: Sie wird vorgetragen von einem Mr. Solomon Seadrift (dem Poe das Aussehen eines Fisches gibt!), der offenbar ein Faible hat für genaue, quasi wissenschaftliche Beschreibung, und der seinen Ich-Erzähler einen Menschen sein lässt, der genau beobachtet und kalt wie ein Fisch seine Beobachtungen notiert. Dass Seadrift es dabei übertreibt, und seinen Ich-Erzähler bis zum Zeitpunkt, an dem er und sein Schiff von der stürmischen See verschlungen werden, Tagebuch schreiben lässt (und er muss es ja noch in eine Flasche gesteckt und diese verkorkt haben, bevor er mit dem Schiff unterging!), was absolut unwahrscheinlich ist (und mir diese Geschichte schon immer verdorben hat), gehört nun zur Satire Poes auf Autoren, die zwar einen großen Namen haben (zumindest zu ihrer (und damit Poes) Zeit), aber in Tat und Wahrheit wenig können, und das Wenige, das sie können, von wirklich Großen abgekupfert haben.
So finden wir durchs Band, dass die ganz und halb Großen von Poe nur indirekt abgestraft wurden: Byron, beide Shelleys, Coleridge, De Quincey, Bulwer-Litton, Emerson oder Washington Irving. Er schlägt den Sack zeitgenössischer Berühmtheiten und meint den Esel der Mode-bildenden Autoren darunter. Nur dumm, dass dieser Sack an zeitgenössischen Größen es war, der auch darüber bestimmen konnte, wer nun Einlass fand in den literarischen Betrieb, den sie führten. Vielleicht war es diese Einsicht, die Poe veranlasste, das Buch nie zu veröffentlichen.
Heute ist es ein Fragment insofern, als vom Rahmen nur noch der Anfang existiert. Wie Poe die einzelnen Geschichten genau eingeführt und wie er die Geschichte beendet hätte, wissen wir nicht. Wahrscheinlich hätte das neueste Mitglied des Folio Club, der Ich-Erzähler des Rahmens, den Geschichten-Wettbewerb verloren, der Teil des Rituals des Clubs war, und in seiner Wut alle Manuskripte an sich gerissen und veröffentlichen lassen – nur um den anderen zu zeigen, dass seine Geschichte die beste war. (Sie war jedenfalls eine der besten dieses Abends!)
Im Übrigen beweist sich der junge Poe in den Erzählungen des Folio Club als ein ungeheuer belesener Autor. Er kennt nicht nur die zeitgenössischen Kollegen und deren „klassischen“ Vorbilder; er kennt auch die deutsche Romantik. E. T. A. Hoffmann haben wir bereits erwähnt, aber auch Chamissos Schlemihl wird zitiert. Schiller, Goethe und Bürger (die man in den USA ebenfalls der Romantik zuzählt) sind ebenfalls zu finden. Walter Scott, Lukrez, Voltaire, Shakespeare, Jeremy Bentham, Martin Luther oder Jean de La Bruyère fehlen nicht. Den Transzendentalismus (der kaum erst in seinen Kinderschuhen steckte) macht Poe hier schon lächerlich (und damit indirekt natürlich Ralph Waldo Emerson). Aber auch entlegenere Autoren wie William Beckford, Pyrrhon von Elis, Lukan und sogar der praktisch verschollene italienische Renaissance-Dichter Angelo Poliziani sind dem jungen Mann soweit bekannt, dass er Spuren von ihnen einbauen kann.
(Der Teufel, der in zwei Geschichten erscheint – und der mich als erstes auf den Folio Club gebracht hat (mit Hilfe eines Twitterers) – ist dann aber wieder absolut nichts Schreckliches, sondern eher ein Dummkopf, den zum Beispiel der nächste beste Falschspieler übers Ohr hauen kann.)
Dennoch – zumindest textlich – in der unten angegebenen Ausgabe durchaus lesenswert.
Edgar Allan Poe: Die Erzählungen des Folio Club. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort von Rainer Bunz. O.O.: Manesse, 2021. [Enthält ein sehr empfehlenswertes, weil informatives Nachwort. Aber mit der neuen Gestaltung und Ausstattung dessen, was einmal die Manesse Bibliothek der Weltliteratur war und heute nur noch Manesse Bibliothek heißt, kann ich mich nach wie vor nicht anfreunden: Pappe statt Leinen für den Einband, dickes, hässliches Papier … Nein. Ganz einfach nein.)