Als ich das Buch als Student das erste Mal las, war ich einigermaßen fasziniert und begeistert davon. So fasziniert und begeistert in der Tat, dass ich Jahre später meine Reclam-Ausgabe durch eine gebundene aller Geschichtswerke Burckhardts ersetzt habe. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich anlässlich dieser Ersetzung Die Kultur der Renaissance in Italien wieder gelesen habe. Wahrscheinlich nicht. Jetzt aber, abermals Jahre später, habe ich dies getan. Und, offen gesagt, doch etwas bereut. Nämlich:
Diese Kulturgeschichte enthält einiges von beidem – Kultur und Geschichte. Aber sie enthält bei aller Länge von beidem zu wenig. Geschichtlich fängt Burckhardt zwar bei Friedrich II. von Staufen an, aber es gelingt ihm nicht, ganz klar herauszuarbeiten, wie und warum es zu den einzelnen Stadtstaaten in Italien gekommen ist und welches ihre politische Rolle welt- und lokalgeschichtlich denn nun war. Wer die politische Geschichte Italiens und das Stück Kirchengeschichte, was die Verhältnisse im Papsttum der Renaissance betrifft, nicht ein bisschen kennt, ist in der Kultur der Renaissance in Italien so ziemlich verloren. Wirtschaftliche Fakten – darin ist Burckhardt allerdings ein Kind seiner Zeit – interessieren ihn schon gar nicht. Es ist nicht einmal klar, ob er sich der Existenz solcher profaner Dinge überhaupt bewusst ist.
Aber auch in Bezug auf die Kultur lässt der Text einiges zu wünschen übrig. Der wichtigste kulturelle „Artikel“, den das Italien der Renaissance-Zeit hervorbrachte, die bildende Kunst (Malerei und Bildhauerei), kommt bei Burckhardt praktisch nicht vor. Dafür legt er großen Wert auf die Errungenschaft der italienischen Literatur jener Zeit. Er verurteilt zwar die Frühhumanisten Dante, Boccaccio und Petrarca dafür, dass sie ihre lateinische Dichtung höher eingeschätzt haben als jene im Vernakular, geht aber seinerseits auf deren italienische Werke nur flüchtig ein. Die große italienische Dichtung der eigentlichen Renaissance, waren aber meist Lobgesänge auf irgendwelche Stadts- und Staatsoberhäupter, und von deren Autoren ist heute allenfalls noch Ariost bekannt – aber dessen Orlando furioso straft Burckhardt ebenfalls mit Vernachlässigung. Castglione wiederum, Pico, Valla und Ficino sind – wo sie bekannt sind – dies nicht als Dichter im engeren Sinn, genau so wenig wie Macchiavelli (dessen Principe Burckhardt zu Gunsten seiner Discorsi vernachlässigt – das Ganze hat offenbar Methode). Daneben ist vielleicht noch Pietro Bembo den Nicht-Spezialisten geläufig, aber wer zum Beispiel Poliziano kennt, kann mit dieser Kenntnis bereits im Small Talk der nächsten Versammlung der lokalen literarischen Gesellschaft brillieren. Die lateinische Dichtung der Renaissance-Humanisten war geprägt von deren Orientierung am Latein Ciceros. Die Satire Ciceronianus sive De optimo dicendi generi / Der Ciceronianer oder Der beste Stil, einen Dialog, in dem Erasmus von Rotterdam diese Mode satirisch abkanzelte, hat Burckhardt entweder nicht gekannt, oder er ist auch da seinem impliziten Motto treu geblieben, die Nordländer allenfalls als tumbe Katholiken oder gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. (Denn die Reformation passte ihm offenbar gar nicht zum Thema.)
Dort nun, wo es um die Moral der Italiener geht, schweift Burckhardt rasch in die Sitte bzw. Unsitte ab, an Vorzeichen und Astrologie zu glauben – und dies noch mit den altrömischen Vorbildern zu rechtfertigen. Ansonsten scheint er den lockeren Lebensstil jener Epoche und jenes Landes zu missbilligen. Um dieser Missbilligung Ausdruck zu geben, greift er dann doch noch auf einen nordländischen Humanisten zurück – er zitiert das Motto, das Rabelais seiner Abtei von Thelema geben ließ: Fay ce que tu vouldras und unterschlägt dabei dass Rabelais hier eben genau nicht jene Freiheit von jeder Moral meinte, mit der die Renaissance-Menschen Italiens gesegnet waren, und die sie Mord und Totschlag als ebenso normal empfinden liessen wie Ehebruch. (Vor allem letzteres verurteilt der erzkonservative Burckhard doch sehr, wie er ganz klar durchblicken lässt.)
Alles in allem also eine Enttäuschung für mich. Ich würde allen, die sich für die italienische Renaissance interessieren, heute wohl eher von Peter Burke The Italian Renaissance empfehlen – ein Werk, das es auch auf Deutsch gibt: Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung. Berlin: Wagenbach, 1992.
Und mehr möchte ich zu diesem Buch auch nicht schreiben.
„Wirtschaftliche Fakten – darin ist Burckhardt allerdings ein Kind seiner Zeit – interessieren ihn schon gar nicht. Es ist nicht einmal klar, ob er sich der Existenz solcher profaner Dinge überhaupt bewusst ist.“
Dass die Medici eigentlich Banker waren, wird wohl gewusst haben. Übrigens war er vom selben Jahrgang wie Karl Marx. Ich habe hier den „Neudruck der Urausgabe“ vom Kröner-Verlag, aber nicht so ein kleiner himmelblauer Band, sondern ein größerer weinroter, auch von der Ausstattung her sehr ansprechend, Copyright 1985, dürfte auch so lange her sein, dass ich es gelesen habe. Immerhin erinnere ich mich recht deutlich an die darin referierte Kritik, wie sie damals in Italien entwickelt wurde, der feudalen Standesordnung, in etwa dass solche Adligen meinen, es sei wirklich so verdienstvoll, eine Reihe von Vorfahren aufweisen zu können, die auf ihren Burgen wie Bären hausten. Was jedoch die Malerei betrifft, wird man gleich im Vorwort des Herausgebers darauf hingewiesen: „Dabei hat er während der Materialsammlung einen Hauptbereich der Kultur ausgeklammert: die Kunst. Burckhardt plante ursprünglich in dem Band die Kultur- mit der Kunstgeschichte zu verbinden. Die Gründe, warum er auf dieses Vorhaben verzichtete, liegen in der Stoffülle und in der zunehmenden methodischen Ausdifferenzierung der Fächer.“ Das und was sonst noch fehlen mag, muss man eben woanders finden.