Kurt Vonnegut: Cat’s Cradle [Katzenwiege]

Während die Library of America vor rund 10 Jahren von Kurt Vonnegut eine kleine Werkausgabe in vier Bänden veranstaltete, dürfen wir im deutschen Sprachraum froh sein, wenn sein bekanntester Roman, Slaughterhouse Five, 2016 in einer Neuübersetzung wieder erschienen und noch im Buchhandel erhältlich ist. Die übrigen in den 1970ern in einem Anflug von Euphorie bei verschiedenen Verlagen erschienen Übersetzungen sind, so weit ich das kontrolliert habe, allenfalls noch antiquarisch greifbar – meist zerlesene und zerfledderte Taschenbücher. (Was zumindest dafür spricht, dass die Vorbesitzer ihren Vonnegut einer intensiven Lektüre unterzogen haben.) Als dieses Jahr (2022) die Folio Society in London in ihrem Frühlingsprogramm eine bibliophile Ausgabe von Cat’s Cradle ankündigte, habe ich deshalb sofort zugegriffen.

In seinem für diese Ausgabe geschriebenen Vorwort zählt Michael Dirda als Einflüsse auf Vonneguts Werk den Existenzialismus auf (namentlich Sartre und Camus), findet in der Unbeschwertheit, mit der Vonneguts Protagonisten in der Katastrophe reagieren, Spuren von einer ähnlichen Leichtigkeit des Seins bei George Bernhard Shaw und rechnet allgemein dann den Autor zur Postmoderne. Als Cat’s Cradle 1963 erschien, soll Graham Greene den Roman zu den für ihn drei wichtigsten Romanen des Jahres gerechnet haben. So weit ein paar Eckdaten.

Der Begriff der Postmoderne war, so weit er überhaupt in der Literaturtheorie definiert worden war, ursprünglich pejorativ besetzt: ein Spiel mit literarischen Traditionen und Formen, das gespielt wird auf Grund mangelnder eigener Innovationsfähigkeiten. Ersteres, Spiel mit literarischen Traditionen und Formen, würde ich für den vorliegenden Roman durchaus zugeben, letzteres allerdings nicht.

Tatsächlich spielt Vonnegut sogar in zweierlei Hinsicht mit den literarischen Traditionen. Fangen wir an damit, dass er die von der Moderne doch mehr oder weniger durchgehaltene Einheit der Handlung offenbar bricht. (Besser gesagt, wie wir sehen werden, für den oberflächlichen Blick zu durchbrechen scheint.)

Die Geschichte wird von einem mehr oder weniger gescheiterten Autor in der Ich-Form erzählt. Von ein paar Rückblicken abgesehen, wird sogar chronologisch geliefert. Und da viele Rückblicke Berichte sind, die andere Personen dem Ich-Erzähler weitergeben, und diese Berichte zu jenem Zeitpunkt eingefügt sind, an dem sie der Ich-Erzähler vernommen hat, sind sogar diese im Grunde genommen chronologisch geordnet.

Die Geschichte fängt damit an, dass der Ich-Erzähler von einem Buchprojekt berichtet, das er gerade in Arbeit hat. Er will von verschiedenen bekannten US-Amerikanern schildern, was sie getan haben am Tag, als in Hiroshima die erste Atombombe gezündet wurde. Einer davon soll Dr. Felix Hoenikker sein, seines Zeichens der „Vater der Atombombe“. Hoenikker ist schon lange tot, seine Frau ist noch vor ihm gestorben, aber seine Kinder sollten noch leben. Der Zufall will es (und dass Vonnegut hier den Zufall bemüht, ist natürlich kein Zufall!), dass der jüngste Sohn, Newton Hoenikker, sich als Medizinstudent an der gleichen Universität immatrikuliert, an der der Ich-Erzähler studiert hat, ja bei dessen Verbindung ein Beitrittsgesuch gestellt hat. So schreibt er Newton einen Brief über diese Verbindung. Er erhält eine Antwort, in der er nicht nur erfährt, dass Newton sein noch nicht begonnenes Studium bereits wieder abgebrochen hat, deshalb auch kein Verbindungsbruder werden kann und jetzt bei seiner älteren Schwester Angela lebt. Der mittlere Bruder Franklin ist verschollen. Der Ich-Erzähler erfährt auch die Erinnerungen Newtons an jenen Tag. Sein Vater hat an jenem Tag die ganze Zeit in seinem Arbeitszimmer jenes Spiel gespielt, das wir im Deutschen das „Abnehmespiel“ nennen, während es im Englischen Cat’s Cradle heißt – nach der Anfangsfigur dieses Spiels. (Im deutschen Sprachraum variieren die Namen für die Figuren, aber man kennt auch den Begriff Katzenwiege dafür.) Als der Vater plötzlich aus dem Arbeitszimmer stürmt und dem vor der Tür spielenden drei- oder vierjährigen Newton die Figur der Katzenwiege voller Enthusiasmus zeigen will, erschreckt er den Kleinen derart, dass dieser laut schreiend davon läuft. (Newton, den wir später persönlich kennen lernen, wird immer wieder auf die Katzenwiege zurück kommen. Immer dann, wenn eine Situation ausweglos oder sinnlos erscheint, wird er zwei leere Hände vorweisen und dem Ich-Erzähler im Stile eines Zen-Kōan sagen: No damn cat and no damn cradle!)

So folgen wir dem Erzähler ungefähr das erste Drittel des Buchs auf seinen Versuchen, mehr über Hoenikker und jenen ominösen Tag zu erfahren. Dann bricht dieser Erzählstrang plötzlich ab. Wir finden den Ich-Erzähler einige Zeit später an Bord eines Flugzeugs wieder, das nach San Lorenzo fliegt. San Lorenzo ist eine (fiktive!) Insel in der Karibik, nicht viel mehr als ein paar Felsen im Wasser mit ein paar halb verhungerten Eingeborenen. In den Zeiten des Kolonialismus wechselte die Insel regelmäßig ihren Herrscher, ohne das die gerade Herrschenden den Drang verspürten, ihren Besitz zu verteidigen. Zum Zeitpunkt des Romans ist sie ein unabhängiger Staat, regiert von einem Diktator, den alle Papa nennen. (Die Anspielung auf den damals auf Haïti regierenden Diktator François Duvalier ist wohl eindeutig. Und der zwischen Unser Mann in Havanna und Die Stunde der Komödianten erschienene Roman Vonneguts könnte durchaus Einfluss gehabt haben auf die seltsam heitere Stimmung der Greene’schen Komödianten.)

Die Insel weist im Übrigen die Seltsamkeit einer eigenen, nur dort ausgeübten Religion auf, des so genannten Bokononismus. Diese Religion wurde gegründet auf Grund einer seltsamen Vereinbarung, die vor Jahrzehnten zwei Schiffbrüchige getroffen hatten, als auf der Insel strandeten. Den völlig verarmten Einwohnern der Insel müsste, fanden sie, zu helfen sein, wenn man eine Religion erfände, die zugleich spirituell und nachvollziehbar sei. Um die Religion attraktiv zu machen, richteten sie es so ein, dass der eine Schiffbrüchige als Diktator die Herrschaft übernehmen sollte, während der andere der Religionsstifter sei – und der Diktator sollte die Ausübung dieser Religion bei Todesstrafe und schweren Folterungen verbieten. Das funktionierte insofern, als die neue Religion tatsächlich von allen Bewohnern adoptiert wurde. Was nicht funktionierte, war zum einen die ursprünglich nur scheinbare Grausamkeit der Verfolgungen, die irgendwann zu echten Verfolgungen mit echten Todesstrafen und Folterungen wurde. Schlimmer aber: Diese neue Religion hat dem Inselstaat in keiner Weise wirtschaftlich aufgeholfen hätte. Einwohner sind auch im Moment, wo der Ich-Erzähler die Insel betritt, mausarm wie zuvor.

Um dem abzuhelfen, hatte der General der Insel, die Nummer Zwei unter dem Diktator (der nicht mehr der Schiffbrüchige war – der war unterdessen gestorben – sondern dessen ehemaliger Majordomo) in US-amerikanische Zeitungen Inserate schalten lassen, um Investoren anzulocken. Der Ich-Erzähler hat von einem Redaktor einer dieser Zeitungen den Auftrag erhalten, nachzuforschen, was der Hintergrund dieser Werbung sei. Im Flugzeug trifft er zufällig (aber der Bokononismus kennt keine Zufälle) die beiden Hoenikker-Kinder, mit denen er schon Kontakt hatte. Auf der Insel zeigt es sich, dass der General der verschollene dritte Hoenikker ist. Und wir erfahren, dass der Diktator unheilbar an Krebs erkrankt ist. Sein Tod ist eine Frage von Tagen. Der General aber – selber nicht in der Lage, vor Leuten zu reden – hat unseren Erzähler als Nachfolger und neuen Diktator ausersehen. Während der zunächst zögert, sich aber schon langsam in die Rolle eindenkt, schlägt die Erzählung eine weitere Volte.

Ein Erdbeben zerstört große Teile der Insel. Und vor allem setzt es etwas frei, von dem ich bisher noch nicht geredet habe, obwohl es immer wieder Andeutungen im Text darauf gab. Hoenikker Senior war nicht nur der Vater der Atombombe. Er hat, herausgefordert durch eine dumme Frage eines Besuchers, der wissen wollte, ob es denn nicht möglich sei, Wasser bei anderen Temperaturen als bei 0° C gefrieren zu lassen, diesbezügliche Forschungen angestellt. Und es ist ihm gelungen (offenbar durch andere Anordnung der Kristallgitter, in denen sich die H2O-Moleküle finden beim Gefrieren), Eis herzustellen, das bei Zimmertemperatur existiert. Dumm an der Sache ist, dass dieses Eis (Vonnegut nennt es Ice-9, wobei das ‘normale’ Eis = Ice-1 ist – was die Formen 2 bis 8 sind, erfahren wir nie) seine Eigenschaften weitergibt, wenn es mit ‘normalem’ Wasser in Berührung kommt; dieses wird sozusagen geimpft und gefriert schockartig ebenfalls bei Zimmertemperatur. (Die Geschichte, wie Vonnegut zu dieser Idee gekommen ist, gibt es in verschiedenen, im Detail von einander abweichenden Versionen. Offenbar haben damals ein paar Wissenschaftler bei General Electrics, wo auch Kurt Vonnegut eine Zeitlang arbeitete – wie auch sein Bruder, der tatsächlich das ‘Impfen’ von Wolken mit Silberiodid erfunden hat, – in Gegenwart von H. G. Wells diese Idee entwickelt. Da Wells sie nicht weiter verwendete, fühlte sich Kurt Vonnegut frei, dies zu tun.) Hoenikker Senior starb eines plötzlichen Todes unter dem Experimentieren mit Ice-9. Seine Kinder, die den Toten fanden, fanden auch diese Substanz. Sie erkannten offenbar, worum es ging. Jeder behielt einen winzig kleinen Teil davon in einer Thermosflasche bei sich. Es zeigte sich aber, dass sie sich nicht dessen enthalten konnten, Splitter weiter zu geben. So besaß auch der aktuelle Diktator von San Lorenzo eine Badewanne voll von dem Zeug. Das Erdbeben zerstört nicht nur dessen Wohnsitz (er selber hatte kurz vorher mit Ice-9 seinen Beschwerden ein Ende gesetzt), es führt auch dazu, dass dieser Behälter ins Meer stürzt. Die Folgen sind fatal: Auf der ganzen Erde gefrieren schockartig alle Meere, Flüsse und Seen. Das Leben wird durch den Wassermangel völlig ausgelöscht. Ein paar Menschen, darunter der Ich-Erzähler, überleben noch auf San Lorenzo.

Hier nun zeigt sich, dass die scheinbar willkürlichen (eben: postmodernen) Volten der Erzählung sich – wie die Schnur im Abnehmespiel – zusammen finden. Wenn im ersten Drittel die Angst vor einer Zerstörung der Welt durch die Atombombe vorherrscht – eine Zerstörung durch Feuer also – lässt Vonnegut am Ende die Welt durch Wasser zu Grunde gehen. Ausgelöst aber wird die Katastrophe in jedem Fall durch die Dummheit der Menschen.

Postmodern ist es aber auf jeden Fall, wie viel Anspielungen auf andere literarische Werke in dieser Erzählung zu finden sind. Da ist zum Beispiel schon der erste Satz: Call me Jonah.. Das ist natürlich eine Anspielung auf den Beginn von Moby-Dick von Hermann Melville. Dort ist es ein Wal, der zur (zumindest persönlichen) Katastrophe des Ich-Erzählers führt. Der biblische Prophet Jona aber wird im Volksglauben von einem Walfisch verschluckt. Vonneguts Überzeugung, dass Religionen lügen, wird so ganz nebenbei Ausdruck gegeben. (Ach ja: Bokononon, der Religionsstifter auf San Lorenzo, schreibt in seinem Buch ganz klar, dass er seine LeserInnen anlügt!) In den zwei folgenden Sätzen wird es aber noch besser: My parents did, or nearly did. They called me John. Entweder ein Jona, ein Prophet, der Unglück voraussagt, oder ein Johannes, der die Apokalypse ankündigt. Er könnte auch – immerhin ist er von Beruf Autor – jener Johannes sein, der da seinen Bericht über einen anderen Religionsstifter anheben ließ mit: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. […] Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. Und der Schriftsteller ist sein Werkzeug und ist sein Prophet. In jedem Fall aber ist er alles andere als ein zuverlässiger Erzähler.

Wir finden weitere Anspielungen auf andere literarische Werke: Steinbecks Of Mice an Men zum Beispiel figuriert als Titel eines Kapitels, oder ganz am Ende fühlt sich Jonah-John ein wenig wie jener andere Ich-Erzähler am Schluss von Mary Shelleys The Last Man. Die Swiss Family Robinson, eine andere Kapitel-Überschrift, ist insofern interessant, als dass die paar Überlebenden auf der Insel sich tatsächlich sehr rasch mit ihrem Schicksal abgefunden haben und sich nun durchschlagen mit dem, was geblieben ist. Vor allem aber gibt ihr neues Leben als Familie Robinson dem Ich-Erzähler die Gelegenheit, Newton gegenüber sein Erstaunen auszudrücken, wie er in der neuen Situation so gar keinen Sexualtrieb mehr verspüre und wie überhaupt offenbar alle Überlebenden keinen Trieb verspürten, sich fortzupflanzen. (Zugegeben: Die einzige noch lebende Frau ist jenseits des gebärfähigen Alters.) Newton will darin eine natürliche Reaktion der Natur sehen: den Verzicht auf eine Erhaltung der Art, wenn es keinen Grund mehr dafür gibt. (Eine recht hinterhältige Parodie im Übrigen: Es ist ja wirklich so, dass – zumindest in Wyss’ Original – die Familie, die sich auf die Insel gerettet hat, nicht weiter vergrößert, obwohl Wyss – entgegen der realen Situation seiner Familie, die das Vorbild für die Schiffbrüchigen war – die Mutter noch leben und überleben ließ. Warum da also nicht weitere Geschwister entstanden sind, oder die Brüder sich in ihrer Not mit ihrem Sexualtrieb an ihre Schwestern gewendet hätten, kann man – außer natürlich mit Wyss’ Puritanismus – nicht so recht erklären. Vonneguts satirische Ader, die hier durchbricht, macht sich über so manchen postapokalyptischen Roman oder Film lustig. Auch über welche, die er noch gar nicht gekannt haben kann, weil sie erst lange nach seinem Tod entstanden sind …)

Literarische Pastiche, Religionssatire – aber auch eine ernst gemeinte Warnung vor der Dummheit der Menschen, die es zu Stande bringen, sich und die ganze Welt in kürzester Zeit zu zerstören. Ich habe hier nur einen Bruchteil dessen geschildert, was in diesem Roman gefunden werden kann, möchte ihn aber jedem Verlag und jedem Übersetzer im deutschen Sprachraum zur Wiederaufnahme ins Programm empfehlen.

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