Jahre – nein: Jahrzehnte – hat die Arno Schmidt-Gemeinde auf zwei Bücher gewartet. Da war eine vollständige Edition des Briefwechsels mit Hans Wollschläger. Und da war eine richtige, dicke, große, fette Biografie von Arno Schmidt. Beide Wünsche haben sich erst im 21. Jahrhundert erfüllt, dafür aber kurz hinter einander. Zuerst erschien 2018 der Briefwechsel, dann in diesem Jahr (2022) die Biografie von Sven Hanuschek. Den Briefwechsel haben wir hier noch im Jahr des Erscheinens vorgestellt. Das Buch war für viele wohl eher eine Enttäuschung, was nicht an der ausgezeichneten Arbeit des Herausgebers Giesbert Damaschke liegt, sondern an den Persönlichkeiten der beiden Autoren und den äußeren Umständen, unter denen sie sich kennen gelernt hatten. Weite Teile dieses Briefwechsels handelten von mehr oder weniger großen textlichen Differenzen in den verschiedenen Editionen der Romane von – Karl May. Damals – zu Beginn der 1960er – ein heißes Thema zumindest in der May-Philologie, aus Sicht des 21. Jahrhunderts überholt und langweilig. Selbst die gemeinsam unternommene Übertragung der Werke von Edgar Allan Poe brachte wenig Interessantes. Die paar übersetzungstheoretischen Bemerkungen, die wir finden, gehen kaum über das hinaus, was auch ein Gymnasiast feststellen kann, wenn er einen Passus aus Vergils Äneis zu übersetzen versucht. Kaum Unterhaltungen poetologischer Art, kaum Unterhaltung über die Werke, die sie gerade in Arbeit hatten. Ja, Wollschläger erfuhr meist erst von einem neuen Werk Schmidts, wenn dieser ihm ein Widmungsexemplar schickte.
Und nun also die Biografie.
Auch sie eine Enttäuschung?
Zumindest leidet sie unter verschiedenen Problemen. Schauen wir uns diese kurz einmal an:
Zu spät
Hanuscheks Arbeit kommt in zweierlei Hinsicht zu spät.
Zum einen ist es nicht die erste Biografie Schmidts, die unterdessen erschienen ist. Es gab schon, um nur die wichtigsten zu nennen, eine in der Reihe der Rowohlt Monografien (Gott hab‘ sie selig – auch so eine Reihe, die von ihrem Verlag kaputt saniert und schliesslich sang- und klanglos eingestellt wurde) und es gab die Bildbiographie von Esterházy. Das macht es schwierig, noch Neues beibringen zu können. Tatsächlich habe ich für meinen Teil wenig über Schmidt erfahren, das ich nicht schon wusste. Dass die erste Veröffentlichung Schmidts ein Schachproblem in einer lokalen Zeitung war (über Schmidts Fähigkeiten als Schachspieler schweigt sich Hanuschek dann aber aus), dass er sich auch mit dem Schweizer Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler beschäftigt hat (das ist aber mein Fehler – ich habe entsprechende Bemerkungen in Schmidts Funk-Essays überlesen) oder dass Schmidts viel gelobte (von ihm selber viel gelobte) Verbesserung der Logarithmen-Tafeln tatsächlich eine war (er allerdings – Autodidakt, der er war – als Vergleich für die Verbesserung nehmen musste, was ihm öffentliche Büchereien und die Bibliothek seines Gymnasiums anboten; dass die Mathematiker unterdessen die Logarithmen-Tafeln tatsächlich verbessert und auf eine neue Grundlage gestellt hatten, wusste er nicht).
Zu spät ist Hanuschek aber auch, weil heute, mehr als 40 Jahre nach dem Tod Schmidts die meisten Leute, die den Autor noch persönlich kannten, ebenfalls verstorben sind. Da ist kaum mehr Neues zu holen. So muss sich Hanuschek in vielen Fällen mit den gleichen Anekdoten zufrieden geben, die schon andernorts zu finden sind (und deren Wahrheitsgehalt oft zweifelhaft ist – auch und gerade, wenn sie von den Schmidts selber in Umlauf gebracht wurden).
Zu viel
Die Biografie leidet auch an einem ‚zu viel‘. Einerseits zu viel irrelevante Information. Wenn Schmidt glaubte, das Fermat’sche Problem gelöst zu haben, reicht eigentlich eine Information, dass dies nicht der Fall gewesen ist. Dem Leser mitzuteilen, der große Fermat’sche Satz ist erst 1995 von dem britischen Mathematiker Andrew Wiles tatsächlich bewiesen worden (S. 372), bringt keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn Arno Schmidt betreffend. Solche Informationen können heute auch bei Wikipedia gefunden wrden. Ich bin nicht sicher, ob Hanuschek hier von seinem Objekt-Subjekt verleitet worden ist, der ähnliche Überdeterminierung in seiner Fouqué-Biografie vorgebracht hat. (Eine Zeitlang hatte ich unterm Lesen gar den Verdacht, das ganze Buch sei eine Pastiche jener Biografie!) Das klingt bei Schmidt nach Positivismus, war aber zu seiner Zeit – vor Wikipedia – noch eher notwenden. Es ist aber bei Schmidt wohl eher der Reflex des ehemaligen Buchhalters, der für alle Zahlen in seinem Heft einen Beleg braucht.
Zu viel Zusammenfassung auch. Praktisch jedes größere Werk Schmidts wird an seinem Ort auch zusammengefasst. Warum dieses? Wenn ich eine solche Zusammenfassung will, bietet mir Wikipedia welche an zu jedem dieser Werke. Aber über Schmidts literaturtheoretische Berechnungen I – III, die Wikipedia gänzlich unterschlägt, finden wir einen einzigen Satz zur Definition des längeren Gedankenspiels (LG). Schade.
Last but not least: Zu viel Interpretation auch. Wenn ich eine Biografie lese, will ich keine Werksinterpretation. Und zumal nicht eine, die bei jeder Frauenfigur die Frage stellt, welcher Schmidt’sche Frauentyp denn das nun sei: die nur aus der Ferne auf dem Bahnhof angeschmachtete Jugendliebe oder Alice? Das bringt mir weder fürs Verständnis des Werks etwas noch fürs Verständnis seines Autors. Und wenn Hanuschek gar noch die Psychoanalyse hervorsucht, und die Theorie, dass Schmidt inzestuöse Wünsche gegenüber seiner Schwester gehegt hätte, wenn nicht aufgestellt, so doch referiert wird, ist für mich die Grenze der Seriosität überschritten. Für ein Pastiche der Schmidt’schen Anwendung freudianischer Gedanken ist das allerdings dann auch zu wenig gut entwickelt.
Summa summarum
Die Hälfte der 989 Seiten hätte es wohl auch getan. Und das wäre möglich gewesen – unter konsequentem Streichen unnützer Information, der Zusammenfassungen Schmidt’scher Werke und der Interpretationen (die, in ihrer Detail-Versessenheit, nebenbei genau jenes Publikum von Schmidt abhalten werden, das gemäß Hanuschek eben – auch – von Schmidt gemeint war: die ‚Nicht-Studierten‘).
Anders gesagt: Die große Schmidt-Biografie nach meinem Gusto wird es wohl zu meinen Lebzeiten nicht mehr geben. Die hier: Nicht für mich. Nicht mit mir. Vielen Dank.
Sven Hanuschek: Arno Schmidt. Biografie. München: Hanser, 2022.