Marcel Proust: À la recherche du temps perdu III. Le côté de Guermantes (2) [Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Welt der Guermantes]

Schrift "A LA RECHERCHE DU TEMPS PERDU" rot auf beige. Ausschnitt aus Buchcover.

Hier nun also der zweite Teil des dritten Buchs der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Unterteilung der Welt der Guermantes stammt in dieser Form nicht von mir, sondern vom Verlag Gallimard, der die einzelnen Bücher in der mir vorliegenden Ausgabe 1949 in kleinere Häppchen unterteilt hat – wahrscheinlich, damit die einzelnen Teile leichter zu binden und zu transportieren sind. Diese Unterteilung folgt im Großen und Ganzen durchaus auch einem inhaltlichen Sinn; darauf wurde offenbar geachtet.

Nachdem wir den Ich-Erzähler in den vorhergehenden Abschnitten verlassen haben, wie er liebeskrank für Mme de Guermantes seinen Freund Robert de Saint-Loup, einen ihrer Neffen, quält, dass er ihm Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft, treffen wir ihn nun in einer Assemblée von Mme de Villeparisis wieder – ihrerseits die Schwägerin seiner Angebeteten, eine Frau, die er bereits in Balbec kennen gelernt hat, weil sie eine Kindheitsfreundin seiner Großmutter ist. Jetzt wurde er also von ihr eingeladen. Wir haben bereits gesehen, dass Proust in seinem Roman im Grunde genommen zwei Ich-Erzähler einsetzt: den jungen Mann, der all das Erzählte gerade erlebt und einen älteren, der manchmal (und ohne Vorwarnung!) sozusagen aus dem Off kommentiert. So einen Kommentar haben wir nun auch vor uns, wenn das Ich darüber sinniert, wie es kommt, dass eine spätere Generation den Salon von Mme de Villeparisis als den Salon der Jahrhundertwende betrachtet, während er doch für die Zeitgenossen (und vor allem -genossinnen!) als medioker galt, da Mme de Villeparisis auf Grund ihrer durch Heirat inferior gewordenen gesellschaftlichen Stellung nicht ganz die glänzende Haute Volée bei sich begrüßen konnte wie andere Damen. Aber, hält unser Ich aus dem Off fest, das liegt daran, dass Mme de Villeparisis ihre Erinnerungen an ihren Salon niedergeschrieben hat – natürlich parteiisch, sich selber ins beste Licht setzend. Ihre ehemaligen Konkurrentinnen haben das nicht getan, und so bleibt sie der folgenden Generation in Erinnerung – eine literaturtheoretische Reflexion also, die sich auch (Proust war sich dessen genau bewusst!) auf Die Suche nach der verlorenen Zeit anwenden lässt. Im Übrigen enthält die Schilderung jenes Empfangs einiges an Gesellschaftssatire, und Proust genießt diese auch, erstreckt er doch deren Schilderung auf rund 120 Seiten in meiner Ausgabe. (Was auch daran liegt, dass er nun zum ersten Mal ausführlich und offen die Auswirkungen des Dreyfus-Skandals auf die französische Gesellschaft im Allgemeinen und die bessere Gesellschaft im Besonderen schildert, sowie die Spaltungen thematisiert, die bis in die einzelnen Familien gehen. Wie schon früher aber nimmt der Ich-Erzähler selber nicht Stellung in der Affäre.)

Und für einmal ist der Übergang zum nächsten Thema fließend, denn auf dem Heimweg von diesem Empfang, genauer gesagt, als er zu Hause ankommt, erfährt der Ich-Erzähler, dass seine Großmutter schwer erkrankt ist. Nun war die Krankheit der Großmutter ja schon ganz zu Beginn das Motiv, warum die Familie des Ich-Erzählers ins Hôtel des Guermantes umgezogen ist, aber der Roman hat dieses Motiv bis jetzt liegen lassen und sich auf den Abweg der Liebe des Ich-Erzählers zu Mme de Guermantes konzentriert. Diese Liebe ist in der Zwischenzeit (man weiß bei diesem Ich-Erzähler nie so genau, warum) abgekühlt und so kann die Großmutter wieder in den Vordergrund treten. Ihre Krankheit ist zunächst einmal Stoff für eine kleine Ärzte-Satire, da die behandelnden Mediziner der Krankheit allesamt recht hilflos gegenüber stehen. Ja, einer davon – ein Schüler Charcots (?) – behandelt sie sogar als eine Einbildung der Großmutter und empfiehlt ihr, doch einfach mal wieder einen Spaziergang im Park zu unternehmen. Man hört auf ihn und auf genau diesem Spaziergang erleidet die Großmutter einen letzten großen Anfall, der ihr Sterben einleitet.

Ihre Krankheit wird von den behandelnden Ärzten als urémie bezeichnet, ist aber wohl nach heutigen Begriffen eine Zerebralsklerose gewesen oder ein Hirnschlag. Jedenfalls wird der Ich-Erzähler im Folgenden mit nahezu klinischer Detailliertheit das langsame Sterben seiner Großmutter erzählen. Zwei Mal fällt in diesem Zusammenhang die Aussage, dass jeder Mensch im Angesicht des Todes eines anderen letzten Endes auf sich selber zurückgeworfen wird, alleine ist – eine schon fast existenzialistische Aussage.

Und auch hier zeigt sich wieder der Künstler, der Schriftsteller Proust, der seinen Text ganz genau komponiert. Zwanglos motiviert durch den Besuch Bergottes am Krankenbett der Großmutter finden wir eine kunsttheoretische Abschweifung. Der Ich-Erzähler referiert nämlich, dass er den Autor Bergotte schon seit einiger Zeit nicht mehr so schätzt wie ehemals, als er noch das Idol des selber schreiben wollenden Jünglings war. Ein anderer (wir erfahren nicht, wer) hat seine Stelle eingenommen – einer, der frecher und gewagter schreibt. Warum dies?, fragt sich der Erzähler (und hier können wir nicht sicher sein, ist es der junge oder der alte). Er kommt zur Antwort, dass es die Neuheit der Form ist, die den neuen Autor anziehend macht – eine Rezeptionsästhetik in nuce, die bis heute nicht nur auf dem Gebiet der Literatur Gültigkeit hat.

Dass Proust auf dieses Thema ausgerechnet in Verbindung mit dem Sterben der Großmutter kommt, ist wiederum nicht so seltsam oder gar pietätlos, wie es auf den ersten Blick scheint. (Wie überhaupt wenig in der Suche nach der verlorenen Zeit so ist, wie es auf den ersten Blick scheint – weder deren Personal, noch deren Handlungen, noch deren Überlegungen.) Denn wenn hier ein Leben aufhört, und auch eine Bewunderung aufhört und eine Liebe, so hat doch etwas anderes angefangen, dem seinerseits die Zukunft gehören kann. Denn nun tritt auch Albertine wieder auf die Bildfläche, und unser Ich verliebt sich abermals in sie. Und wenn wir vorher von einer existenzialistischen Haltung gesprochen haben, so müsste man wohl hier den Einfluss genauer untersuchen, den Bergsons Philosophie des élan vital (eines pseudo-darwinistischen Lebenselexiers) auf Proust gehabt hat. (Proust hat Bergson ziemlich sicher persönlich gekannt; die beiden waren miteinander verwandt.)

Den Schluss der Welt der Guermantes stelle ich später vor.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert