Wieland Schnürch (Hrsg.): Karl May und München

In einem goldenen Rahmen auf dunkelgrünem Hintergrund befinden sich vor einem blauen Himmel mit leichter Bewölkung, von links nach rechts: Eine alte Ansichtskarte von München (man sieht nur den oberen Ausschnitt: blauer Himmel mit leichter Bewölkung und dem Schriftzug "München"), den Kopf von Karl May (nach einer Originalfotografie) und die beiden Türme der Frauenkirche. Das Ganze ist ein Auisschnitt aus dem Buchcover.

Offen gesagt, habe ich Karl May nie wirklich mit München in Verbindung gebracht. Er war für mich ein Deutscher; manchmal präzisierte er es dahingehend, Sachse zu sein. (Weil ich natürlich, als ich mit 9 oder 10 Jahren zum ersten Mal mit Karl May in Berührung kam, den Unterschied zwischen Erzähl-Ich und Autoren-Ich noch nicht machen konnte. Doch das konnte auch May selber nicht, weshalb, was er von seiner eigenen Biografie seinen Figuren Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand geliehen hatte, im Großen und Ganzen stimmt. Dass er im Umkehrschluss auch die Biografie seiner Helden zu seiner eigenen machte, ist eine andere Geschichte.) Dass zumindest das mit dem Sachsen ein bisschen komplizierter war, habe ich erst viel später herausgefunden, und ich weiß nicht, ob May sich der Geschichte seiner Geburtsstadt Ernstthal so ganz bewusst war.

Nun also das vorliegende Buch. Es erschien im Nachgang zur Jahrestagung der Karl-May-Gesellschaft, die 2022 in München stattfand, und ich vermute, es wäre ohne diese Tagung nie erschienen. Jedenfalls will mir auch nach der Lektüre nicht einleuchten, dass Mays Bindung oder Verbindung zu München und Bayern ein eigenes Buch gefordert hätten. Das Buch ist nun 2022 beim Karl-May-Verlag in Bamberg erschienen – auf Hochglanzpapier gedruckt und reich mit zeitgenössischen Bildern (Fotografien, Postkarten etc.) illustriert.

Das Buch ist so strukturiert, dass wir in chronologischer Reihenfolge Texte finden zu Karl May bzw. zu Phänomenen rund um die Rezeption Mays in München – angefangen bei Mays eigenen Aufenthalten in der Stadt, über den dort schon früh entstandenen Fan-Club, seine speziellen (vor allem weiblichen) Fans im bayerischen Königshaus, bis hin zu den Karl-May-Filmen der 1960er. Dies jeweils abwechselnd zu kurzen Texten, die Orte oder Phänomene vorstellen, zu denen May in näherer Beziehung stand: Hotels oder Cafés, in denen er sich aufgehalten hat und auch das Stadtpalais der Wittelsbacher (des bayerischen Königshauses). Naturgemäß können nicht alle Texte von gleicher Qualität sein und ebenso naturgemäß interessiert nicht jeden oder jede das gleiche.

Der meiner Meinung nach beste und auch interessanteste Text steht gleich am Anfang: “Am Schlimmsten aber war es dann in München …“ von Giesbert Damaschke. Er trägt darin alles zusammen, was sich zu Karl Mays Aufenthalten in München finden lässt: Mays eigene Briefe, in denen er schildert, was er in München erlebt hat, ebenso wie Berichte Dritter (vor allem Fans natürlich) und Zeitungsausschnitte. Der Titel des Aufsatzes stammt aus einem Brief Mays, in dem der sich darüber ‚beklagt‘, wie er in München von seinen Fans nachgerade belagert gewesen sei – so viele in der Tat hätten sich vor dem Hotel versammelt, dass man sie mit einer Wasserspritze auseinander treiben musste, damit die Trambahn noch fahren konnte. Von 800 bis 900 Personen aufs Mal schreibt er. Interessanterweise finden sich selbst in den Berichten seiner Fans bedeutend kleinere Zahlen und in den Münchner Zeitungen jener Tage – gar nichts (während ein Auflauf in dieser Größe doch wohl einen Bericht wert gewesen wäre). May war damals auf dem Höhepunkt seiner von ihm selber aufgebauten Legende, er sei tatsächlich identisch mit Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand, und Winnetou habe wirklich gelebt. Wo in Zeitungen und Zeitschriften darüber berichtet wurde, wurde denn auch diese Legende kritiklos übernommen. Es darf also nicht verwundern, wenn er auch seinen Besuch in München ‚aufhübschte‘.

Auf Damaschkes Aufsatz folgt ein Zwischenspiel zu (Karl May und) dem bayerischen Bier. Es zeigt sich allerdings implizit (denn der Autor Ludwig Stimpfle geht nicht darauf ein), dass May, der selbst seinen Winnetou das deutsche Bier loben lässt, das eigentlich bayerische Bier nur in seinen so genannten ‚Kolportage-Romanen‘ genannt zu haben scheint. Vor allem sein Wurzelsepp aus dem Weg zum Glück, ein Bayer natürlich, fragt einmal in Trier nach einem Bier, aber nicht ein so wässeriges österreichisches, sondern ein kerniges aus dem lieben Bayernlandl daheim. (Auf die Gefahr hin, es mir mit den Bayern und Münchnern zu verderben, muss ich gestehen, dass ich dem Wurzelsepp nicht beistimmen kann. Zumindest beim Bier, das den Weg hier über die Grenze findet, handelt es sich um billigste Industrie-Plörre, wässeriger und geschmackloser als jedes österreichische Bier, an das ich mich erinnere.) Doch Stimpfl geht es eigentlich gar nicht darum; im Folgenden gibt er uns einen kurzen historischen Abriss über die Entwicklung der Münchner Biergärten und erklärt, warum wir dort zwar eigenes Essen mitbringen dürfen, aber nicht eigenes Bier.

Der folgende Aufsatz von Wieland Schnürch weist viele Parallelen und Wiederholungen zum bereits gelesenen von Giesbert Damaschke auf, weil er noch einmal vieles über Mays Aufenthalte in München wiederholt, um dann auf das eigentliche Thema, den “May-Club München“ zu kommen. Das ist schade und auch ein bisschen entlarvend, denn Schnürch berichtet zwar auch von den brieflichen Aufschneidereien Mays, was die Zahl der Fans vor dem Hotel betrifft – er aber hält diese große Zahl für vielleicht möglich oder wenigstens nicht ganz so übertrieben. Wo Damaschke neutral referiert und die Lesenden sich ihre eigene Meinung bilden lässt, verfällt Schnürch dem für die May-Szene typischen Reflex, den ‚Mayster‘ entschuldigen und rechtfertigen zu wollen, ja ihm sogar dort zuzustimmen, wo die Fakten widersprechen.

Die Kurztexte zu den verschiedenen Hotels und Cafés, in denen sich May im Laufe der Zeit aufgehalten hat, lasse ich weg – die meisten, so sie noch existieren, stehen unterdessen an einem anderen Ort, und an der alten Adresse wurde neu gebaut. (Einzig interessant dabei der kurze Blick auf die Schäden am Stadtbild, die der Neuaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg erzeugt haben muss.)

Am Bericht zu den Beziehungen Mays zu den Wittelsbachern sind zwei Dinge interessant. Da ist zum einen der sehr servile Ton, den May in seinen Briefen dahin anschlägt, und der den Verfasser doch sehr verwundert in Anbetracht des Umgangs, den Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi mit so hoch gestellten Leuten treiben. Das übersieht aber meiner Meinung nach den kompensatorischen Charakter der Fiktion, den Mays Schreibe eben auch aufweist, und den stark hierarchischen Zug, den Mays fiktive Welten eben auch aufweisen, wo Winnetou und Old Shatterhand bzw. Kara Ben Nemsi die unangefochtenen Führer einer hierarchisch gegliederten Truppe sind – denn auch innerhalb ihrer Reisegefährten gibt es Abstufungen, so ist zum Beispiel der Hadschi Halef Omar eindeutig die N° 2 des Teams, so, wie es auch Old Surehand war, bevor May jedes Interesse an der Figur als Westmann verlor. Das andere Interessante ist die eine Tochter des bayerischen Königs Ludwig III., mit der May in regelmäßigem Austausch stand. Er versuchte dann auch, sie zu instrumentalisieren, als es ihm darum ging, seine neu gewonnene Anschauung vom Wesen der Welt und der Kunst seinem Publikum zu erklären. Der Autor des Aufsatzes will bei ihr das Bemühen sehen, sich Mays neue Weltanschauung anzueignen, muss dann aber ein paar Seiten später gestehen, dass es beim letzten Treffen zwischen den beiden doch nur darum ging, ob und wann denn nun Winnetou gelebt habe – und May, seiner eigenen Phantasie gegenüber machtlos, gab abermals zu, dass Winnetou tatsächlich existiert habe. (Auch hier also der typische Reflex der May-Szene, den Helden seiner Jugend in einem möglichst positiven Licht scheinen zu lassen, selbst wenn man zugeben muss, dass die Tatsachen eine andere Sprache sprechen.)

Der Einschub nach diesem Aufsatz betrifft dann die Geschichte des Stadtpalais der Wittelsbacher. Dieses Königshaus war nach dem Ersten Weltkrieg das erste, das gestürzt wurde (so beliebt wie bei Karl May scheint es also im Volk nicht gewesen zu sein). Das Gebäude diente dann der Münchner Räterepublik (Toller, Mühsam, Landauer und auch B. Traven), später dann wurde es zu einer Folterkammer des Nationalsozialismus. Auch dieses Gebäude wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in dieser Form wieder aufgebaut.

Mit Ludwig Stimpfles Aufsatz zu Franz Kandolf betreten wir dann ein finsteres Kapitel der Karl-May-Philologie. Kandolf, Sohn einer armen Familie, durfte auf Grund seiner Begabung Priester werden. Das war, nach den jährlichen Berichten seines Vorgesetzten zu schließen, keineswegs seine Berufung. Die lag wohl mehr im Genuss von Bier und Zigarren – und in Karl May. In E. A. Schmid, dem Verleger Karl Mays, traf er einen Gleichgesinnten. Zusammen mit noch anderen machten sie sich an eine Bearbeitung der Originaltexte Mays, wie sie Schmid 1919 folgendermaßen ankündigte:

Bei uns aber unterliegen die Werke [Karl Mays] nunmehr einer eingehenden, sorgfältigen Bearbeitung: sie werden von Fremdkörpern und Weitschweifigkeiten befreit, in ihren Schwächen verbessert.

S. 203

1921 klang es dann noch schlimmer:

Des weiteren ist von Anfang an vorgesehen, daß sämtliche Werke Mays allmählich kritisch durchgesehen und von unleugbaren Schwächen, wie Weitschweifigkeiten und Wiederholungen im Wechselgespräch, Fremdwörtern und anderen stilistischen Mängeln, sowie gelegentlichen Entgleisungen in der Handlung befreit werden.

S. 204

Kandolf, der im Übrigen große Reisen auf den Spuren Mays unternahm, immer an vorderster Front.

Stefan Wunderlichs Aufsatz über die frühe Karl-May-Szene in den 1930er Jahren weist auf ein Phänomen hin, das für die damalige Zeit und für Deutschland einzigartig war, nämlich, dass ein Schriftsteller nicht nur zu Lebzeiten unhinterfragt Legenden zu seiner Person verbreiten konnte, sondern dass sich zu seinen Lebzeiten, aber auch noch nach seinem Tod, Fan-Clubs bildeten, wie wir sie heute vor allem von Gesangs- und Hollywood-Sternchen kennen. Man war sich solches damals noch nicht gewohnt, und dass man die heute so genannte ‚Old-Shatterhand-Legende‘ nicht schon früher hinterfragte, lag auch ganz einfach an diesem Umstand. (Das wird in den verschiedenen Aufsätzen dieses Buchs zwar angetönt, aber nicht ausgeführt.) Man hätte ja nur Buffalo Bill fragen brauchen, der zeitweise auch in Deutschland tourte, und den im Wilden Westen kennen gelernt zu haben, Karl May angab (ohne offenbar diese Bekanntschaft in Deutschland erneuern zu wollen – May ging Cody geflissentlich aus dem Weg). Auch die sich bildende Fan-Gemeinschaft war für damalige Verhältnisse neu und ungewohnt; sie ist allerdings, selbst wenn sich in München einige nicht unbekannte Maler dabei befanden, zumindest für mich nicht von Interesse.

Last but not least die Filme … Hier geht Nicolas Finke vor allem auf die Verfilmungen von May-Stoffen der 1960er ein. Der Zusammenhang mit München ist zum einen der sehr konstruierte, dass einige dieser Filme dort ihre Welturaufführung erlebten – was zwar großartig klingt, bei näherer Betrachtung aber in sich zusammenfällt wie ein prachtvoller Kuchen, den man zu früh aus dem Ofen genommen hat, weil diese Filme außerhalb des deutschen Sprachraum kaum rezipiert wurden und werden. Die Stars … je nun: Lex Barker fand nach Tarzan in Hollywood keine Rollen mehr und Pierre Brice schaffte in Frankreich auch nicht den gewünschten Durchbruch, da ihm dort Belmondo und vor allem Alain Delon vor der Sonne standen. In Deutschland und mit Karl May wurden sie (wieder) zu Stars, hier gab es Interviews und Star-Schnitte von ihnen in der Jugendzeitschrift Bravo, die (und das ist der zweite Zusammenhang der Filme mit München) ihre Redaktion damals in der Isarstadt hatte.

Muss man nun dieses Buch gelesen haben? Interessant ist darin eigentlich nur, wie sich Karl Mays Hang zur Großsprecherei konkret ausgedrückt hat und ein paar – meist nur implizite – Überlegungen zur Art und Weise, wie sich das moderne Fandom (im Buch wird konsequent Fantum geschrieben, und jedes Mal, wenn ich auf das Wort traf, fragte ich mich, welcher Lateiner dieses Wort denn gebildet habe …) damals auszubilden begann. Münchner und / oder Karl-May-Fans werden vielleicht mehr darin finden.

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