Joseph Roth hat 1938, sechs Jahre nach dem Radetzkymarsch, mit diesem Roman hier noch einmal vom Untergang des alten Österreich erzählt. Und auch wenn ich den Radetzkymarsch weit über Die Kapuzinergruft stelle, soll das nicht heißen, dass das hier kein guter Roman sei. Er ist es nämlich, ein sehr guter sogar. Tonfall, Stil und Kolorit sind auch hier außerordentlich gelungen. Wenn ich finde, dass Roth gewisse Dinge noch etwas ausführlicher hätte schildern können, ist es vielleicht auch nur in Gedanken an den großen Vorgänger Radetzkymarsch. Vielleicht wäre mehr wirklich zu viel gewesen.
Auch in Die Kapuzinergruft stammt der Protagonist aus der Familie Trotta aus Sipolje in Slowenien. Allerdings: Genau so wenig wie die Trottas aus Radetzkymarsch ist der Trotta hier noch ein ‚echter‘ Slowene. Wenn er schon fast vorwurfsvoll gleich zu Beginn konstatiert:
Die geadelten Trottas waren fromm-ergebene Diener Franz Josephs geworden. Mein Vater war ein Rebell.
so gilt dieses Rebellentum halt auch nur für den Vater des Ich-Erzählers. (Denn, anders als im Radetzkymarsch haben wir in der Kapuzinergruft einen Trotta als Ich-Erzähler.) Der Großvater des Trotta hier war der Bruder jenes Leutnant Trotta, der – schon fast aus Versehen – dem Kaiser Franz Joseph in der Schlacht von Solferino das Leben gerettet hatte, dafür geadelt und, zumindest eine Zeitlang, in den Schulbüchern als „Held von Solferino“ geführt wurde. Das Rebellentum des Vaters des Ich-Erzählers zeigte sich darin, dass er zu einer Gruppe gehörte, die das seit jeher ziemlich gebrechliche Konstrukt der österreich-ungarischen Doppelmonarchie zu sanieren wünschten, indem den beiden bestehenden Monarchien unter dem Kaisertum eine dritte, slawische hinzugefügt werden sollte. (Solche Ideen gab es damals wirklich, und sie waren auch in der Realität nicht gern gesehen.) Der Vater musste aus Österreich fliehen, ging nach Amerika, wo er als Chemiker viel Geld machte. Als nunmehr reicher Mann durfte er problemlos in die Heimat zurück kehren. (Wo er dann offenbar auch keine Schwierigkeiten mehr machte.) Unter der Heimat auch dieses Zweigs der Trottas dürfen wir uns so wenig Sipolje oder Slowenien vorstellen, wie beim adligen Zweig. Zwar berichtet der Ich-Erzähler nicht ohne Stolz, dass er noch Slowenisch gelernt hat, auch Sipolje noch gesehen hat, aber die eigentliche Heimat beider Zweige ist seit langem Wien.
Hier ist es auch, wo der junge Ich-Erzähler mit seinen Freunden in den Kaffeehäusern sitzt und schwatzt – bis der Tag kommt, an dem alle diese reichen Nichtstuer und Schwätzer in den Krieg müssen, den Österreich-Ungarn unterdessen angezettelt hat. Nur der Ich-Erzähler, so berichtet er jedenfalls, ahnt, dass sie sich nie mehr so wiedersehen werden. Auch er selber wird eingezogen, bringt es aber zu Stande, statt mit seinem bisherigen Regiment mit einem anderen ausziehen zu können. Er hat nämlich in der Zwischenzeit nicht nur einen Vetter aus Sipolje kennen gelernt, den Bauern und Marronibrater Joseph Branco, sondern durch diesen auch einen Fiaker (Kutscher) aus Zlotogrod in Galizien. Zwischen den drei hat sich eine Art Freundschaft gebildet, und so lässt sich der Fähnrich Trotta zu deren Regiment transferieren. Diese Freundschaft zwischen einem (eigentlich deutschen) Wiener mit slowenischen Wurzeln, einem echten Slowenen und einem Galizier vereinigt somit die unterschiedlichsten Gebiete des alten Österreich-Ungarn. Sie wird im Krieg ebenso zerbrechen wie nach dem Krieg der Staat, dem sie einmal alle angehörten.
Trotta findet sich im neuen Staat, im neuen Wien, nicht mehr richtig zurecht. Er war einmal reich, aber der Zusammenbruch Österreich-Ungarns hat auch seinen Reichtum zusammen brechen lassen. Es zeigt sich, dass sich die Frau, die er in einer Art Torschlusspanik noch vor dem Einrücken geheiratet hat, in der neuen Zeit besser zurecht findet als er – und dass sie in der Zeit, die er in Kriegsgefangenschaft verbracht hat, eine weibliche Geliebte gefunden hat. Kurzfristig finden die beiden zwar noch einmal zusammen, und sie zeugen sogar einen gemeinsamen Sohn, aber sie verlässt ihn dann dennoch endgültig. Da in der Zwischenzeit auch seine Mutter stirbt, bleibt Trotta von der Familie nur noch sein Sohn, und auch seine Freunde sind nur oberflächliche Kaffeehaus-Gesellschaft.
Doch selbst die bricht auseinander, als am Schluss des Romans ein seltsam gekleideter junger Mann an der Schwelle zum Café erscheint und den Anwesenden verkündet:
»Volksgenossen! Die Regierung ist gestürzt. Eine neue deutsche Volksregierung ist vorhanden!«
Der jüdische Besitzer des Kaffeehauses übergibt Trotta die Schlüssel und verlässt wohl nicht nur sein Café sondern gleich ganz Österreich. Trotta begibt sich mit dem Hund des Kellners (der selber auch verschwunden ist) zur Kaisergruft bei den P.P. Kapuzinern in Wien, kurz Kapuzinergruft. Unterwegs sieht er überall Flaggen hängen mit dem Hakenkreuz darauf. Bei der Gruft angekommen begehrt er vom Wache habenden Bruder Einlass, wird aber mit einem Segen abgefertigt. Sein Versuch, „Gott erhalte den Kaiser!“ zu rufen, wird vom Mönch unterbrochen.
Der Roman endet mit den verzweifelten Worten:
Wohin soll ich, ich jetzt, ein Trotta? …
Eine Frage, die sich damals, am 12. März 1938 so mancher gestellt haben wird …
Wie schon Radetzkymarsch enthält auch Die Kapuzinergruft eine mehr auf Gefühlen basierende, die alte Doppelmonarchie wohl auch zu wenig kritisch hinterfragende ‚Analyse‘ der Geschehnisse der letzten Jahre Österreich-Ungarns und der ersten österreichischen Republik, als eine politisch-historisch scharfsinnige. Dort allerdings, wo eine der Figuren festhält, dass es das Gerede in den Wiener Kaffeehäusern war, wo Deutsch-Nationale auch aus Böhmen und Mähren ungestört das Wort führen und die slawischen Bewohner des ehemaligen Reichs ungehindert schlecht reden, ja den Anschluss ans Reich propagieren durften, trifft sich Roth mit ähnlichen Bemerkungen, die Anton Kuh zur gleichen Zeit in seinen Essays veröffentlicht hat.
Überaus empfehlenswert!