In der zweiten Hälfte von Sodom und Gomorrha (wohl aus buchbinderischen Gründen wurde dieses Buch mitten in Chapitre II (Kapitel II) geteilt, wobei dieses Kapitel sowieso bei weitem das längste des Buchs ist, während zum Beispiel das Schlusskapitel (IV) nur noch eine kurze Coda des Ganzen darstellt, aber als solche einige wichtige Informationen liefert) – in der zweiten Hälfte also wohnen wir noch einmal einer Abendgesellschaft bei.
Dieses Mal befindet sich unser Ich-Erzähler aber nicht beim Hochadel, sondern in der bürgerlichen ‚Mittwochs-Gesellschaft‘ der Mme Verdurin. Wir hatten diese Gesellschaft bereits einmal besucht, damals mit Swann und Odette de Grécy. Beide waren sie Teil dieser ‚Bande‘, Odette bedeutend länger als Swann, aber beide sind im Lauf der Zeit von ihr weg gedriftet. Damals war dieser Salon erst gerade im Aufbau, aber Mme Verdurin hielt ihn seit je für den einzig relevanten Zirkel dieser Erde, und schon damals wachte sie eifersüchtig darüber, dass die Mitglieder ihres Zirkels in keinem anderen verkehrten. Unterdessen hat er seine Blütezeit erreicht. Noch immer aber ist Mme Verdurin im Geheimen eifersüchtig auf die adligen Gesellschaften; noch immer auch hat sie (haben alle Mitglieder ihres Zirkels) keine Ahnung der wirklichen Verhältnisse in den adligen Kreisen. Als der Baron de Charlus in seiner Funktion eines Protektors des Violinisten Morel ebenfalls eingeladen wird („ebenfalls“, weil die Einladung vor allem Morel galt, der Mme Verdurins Gäste musikalisch unterhalten solle) und an jenem Abend zufällig auch der Marquis de Camembremer mit seiner Frau anwesend war (die Verdurins hatten ein Landhaus in der Nähe von Balbec von ihnen gemietet, und die Einladung bzw. der Besuch sollte die Beziehung der beiden Parteien festigen), hielt diese ‚Mittwochs-Gesellschaft‘ den Marquis für höher gestellt als den Baron, weil niemand wusste, dass Charlus auch noch Anspruch auf weitere, über dem Rang eines Marquis stehende Titel hatte. Nachdem der Baron zunächst gutmütig mitspielt, wird es ihm dann doch zu viel, als man es ihm direkt unter die Nase reibt, und er verklickert Mme Verdurin die reale Sachlage. Worauf sie ihn fragt, ob er denn den Duc de Guermantes kenne. Charlus’ Antwort, es handle sich um seinen Bruder, bringt Mme Verdurin zum Nachdenken. Nicht wissend, dass beim Adel nur der älteste Sohn den höchsten Titel erbt (und damit den Namen), zweifelt sie wegen der Verschiedenheit des Familiennamens an Charlus’ Aufrichtigkeit – es sei denn, fügt sie für sich hinzu, es würde sich bei ihm um einen illegitimen Sohn handeln. Auch ist der Zirkel überzeugt, dass Edmond Rostand von Adel ist, also Edmond de Rostand heisst, während ees sich bei ihm um einen bürgerlichen Autor handelt. Ebenfalls wird Mme Molé immer Mme de Molé genannt – sie ist nun zwar von Adel, trägt aber einen Namen ohne das Adelsprädikat ‚von‘. (Wir wollen hier über Mme Verdurins Zirkel nicht allzu hart urteilen – bis heute lese ich immer wieder den Namen ‚Adolph Freiherr von Knigge‘, während die Knigges in Tat und Wahrheit von so altem Adel sind, dass sie das Wörtchen ‚von‘ noch gar nicht führen.) Im Übrigen aber zeigen sich gegen Ende von Sodom und Gomorrha erste Korrosionserscheinungen in der streng fixierten und hierarchisierten Ständegesellschaft der Dritten Republik – Bürgerliche, die in den Gesellschaften des Hochadels verkehren und umgekehrt Mitglieder des Hochadels, die bürgerlichen Zirkeln angehören.
Einmal mehr gießt Proust ätzende Satire über das Salon-Wesen aus, diesmal auch über die bürgerlichen Kopien. Wenn sich nun sein Ich-Erzähler fragt, warum er trotzdem regelmäßig hingehe, sagt er sich sinngemäß, dass der intellektuelle Gehalt der Diskussionen im bürgerlichen Salon höher sei als beim Adel. Als Beispiel dient dann ein gewisser Brichot, Professor an der Sorbonne, der die Etymologien sämtlicher Ortsnamen rund um Balbec erklärt. (Die paar, die ich nachgeprüft habe, sind allerdings ebenso haltlos wie die, die der junge Ich-Erzähler seinerzeit in einem Buch eines alten Abbé gelesen hat.) Und wenn es darum geht, Balzac zu verstehen und auszulegen, zeigt sich ausgerechnet der Baron de Charlus als aller Meister. Die Dinge sind bei Proust oft nicht so, wie sie auf den ersten Blick scheinen. (Allerdings trügen bei ihm oft auch der zweite und der dritte …)
Daneben, im letzten Viertel von Sodom und Gomorrha entwickelt sich auch das Verhältnis des Ich-Erzählers zu Albertine. Sie fahren zusammen zu den Verdurins (wo Albertine als die Cousine des Erzählers gilt), wobei sie die Bahn nehmen wie alle des Zirkels, der meist als geschlossener Trupp reist. Der Ich-Erzähler hat aber auch ein Automobil samt Chauffeur gemietet, mit dem Albertine und er spazieren fahren. Und einmal fliegt sogar ein erstes Flugzeug mit Getöse über ihn hinweg – in wenigen Worten tönt Proust hier die großen technischen Veränderungen an, die der Beginn des 20. Jahrhunderts mit sich brachte. Doch – um auf das Verhältnis der beiden zurück zu kommen – Albertine langweilt den Ich-Erzähler, und er sagt seiner Mutter (mit der er in Balbec ist, wie er es vor Jahren mit seiner Großmutter war – die Mutter auch immer mehr ihrer Mutter ähnlich werdend, äußerlich wie innerlich), dass er nur noch auf die Gelegenheit warte, mit ihr endgültig zu brechen.
Dann kommt der Moment, wo er drauf und dran ist, es ihr zu sagen. Er will ihr gerade – recht von oben herab, will mir scheinen – erklären, wer der Komponist Vinteuil war. Da erzählt sie ihm von einer älteren Freundin („Nicht, was du jetzt denkst!“), der sie viel verdanke und die sie ihrerseits mit ihrer Freundin, der Tochter Vinteuils bekannt gemacht habe; sie wisse also sehr gut, wer Vinteuil sei. Was sie nicht weiß, aber wir Lesenden und natürlich der Ich-Erzähler selber: Er hat die beiden einmal dabei beobachtet, wie sie nach Vinteuils Tod nicht nur auf die Fotografie des Verstorbenen gespuckt haben, sondern auch, wie sie sich gegenseitig liebkosten. Von einer Sekunde zur anderen kippt der Schalter bei unserem Erzähler. Er sieht Albertine als Dritte in diesem sapphischen Bund und ist alarmiert. Sofort will – nein: muss – er nach Paris zurück kehren, und Albertine mit ihm, um sie vor den beiden zu retten. So erzählt er noch am selben Abend seiner Mutter, dass er seine Meinung geändert habe: Er müsse Albertine heiraten und zwar so schnell wie möglich. Einmal mehr agiert dieser Ich-Erzähler rätselhaft, weil völlig irrational. Schon vorher haben wir gelesen, wie er aus heiterem Himmel und dafür dann sehr bösartig über Morel, den Violonisten, und über den gemieteten Chauffeur herzieht – nur weil sie offenbar später Dinge getan haben, die ihm und / oder Albertine geschadet haben. Sobald Albertine nicht im Spiel ist, berichtet er wieder ganz ruhig und völlig neutral über die beiden.
Der Ich-Erzähler bleibt also ein Rätsel, und was in Paris geschehen wird, wird im Titel des nächsten Buchs bereits angetönt: Es wartet La prisonnière, die Gefangene, auf uns.
Ach, war das eine schöne Zeit. Ich habe mich lange gesträubt, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu lesen. Als ich es dann endlich tat, wurde ich über alle Maßen belohnt. Die Lektüre ist nicht immer einfach. Aber es gibt nur wenige dieser Vorher/Nachher-Bücher überhaupt, wo man sich klar dran erinnern kann, wie die Welt vor der Lektüre des Buches war, und wie sie danach ist, und daß es dazwischen deutliche Unterschiede für mich gibt.
Ich fand Mme Verdurin immer extrem borniert und versnobt. Bei den Adligen habe ich das vorausgesetzt und gar nicht mehr bewertet. Letzten Endes wurde öfter Interessantes besprochen bei Mme Verdurin, aber manchmal auch hanebüchener Blödsinn ausgebreitet.
Die etoymologischen Ergüsse von Professor Brichot wurden ja schon von Marcel selber widerlegt, oder? Oder erinnere ich mich falsch und sie wurden in den Fußnoten der deutschen Übersetzung von Bernd-Jürgen Fischer auseinandergenommen?
Als kleine Intensitätssteigerung las ich die Fußnoten sehr genau, recherchierte tiefer, wenn mir etwas merkwürdig vorkam und hatte am Ende über den Verlag Kontakt zum Übersetzer, was zu einem sehr interessanten Mailverkehr führte. Ein Beispiel: in einer Fußnote gab es Unklarheiten, wie der von Proust namentlich nicht erwähnte apostolische Nuntius hieß. Seit der Ausgabe des Buches jedoch scheint die katholische Kirche Webseiten veröffentlicht zu haben, wo sich dieser Name leicht fand für den möglichen Zeitraum. Durchaus möglich, daß der Nuntius auf einem dieser Bälle war, der hier besprochen wurde.