Cicero: Gespräche in Tusculum [Tusculanae disputationes]

Stark stilisierter Kopf eines alten Römers im Profil, nach rechts blickend. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Manchmal finde ich auf recht verschlungenen Wegen das Buch, das ich als nächstes lesen und hier vorstellen will – so war es zum Beispiel auch bei den Gesprächen in Tusculum. Meine kürzliche Lektüre von Marcel Prousts La prisonnière – ein Text, den ich bei einer früheren Lektüre als recht zäh in Erinnerung hatte – rief, als ich meinen Blick über die Unordnung in meinen Regalen schweifen ließ, eine andere Erinnerung ab. Die Gespräche in Tusculum habe ich zum ersten Mal als junger Mann gelesen – in genau der Ausgabe, die ich noch heute besitze. Ich hatte das Buch damals sogar sehr gern gelesen, weniger wegen des philosophischen Inhalts, als wegen des allgemeinen Gefühls der Ruhe, die der Text in meinem Empfinden ausstrahlte. Ich meine mich zu erinnern, dass ich die Gespräche in Tusculum in jenen Jahren sogar mehrmals gelesen habe. Dann lernte ich die heutige Art zu philosophieren kennen und ließ den Text jahrelang links liegen. Ein Versuch der Wieder-Lektüre vor ein paar Jahren scheiterte. Ich empfand das Buch nicht mehr als beruhigend, sondern einfach nur als langweilig. Genau dies aber hat mich nun in Zusammenhang mit Proust ‚getriggert‘. Wenn ich der einstmals als zäh empfundenen Prisonnière heute doch einiges abgewinnen konnte, wie könnte es dann mit den Gesprächen in Tusculum stehen? Das Buch aus dem Regal nehmen und kurz darauf die Lektüre beginnen, war die logische Konsequenz meiner an mich gerichteten rhetorischen Frage.

Das Resultat? Nun ja. Sicher, ich habe das Buch fertig gelesen dieses Mal. Anders als bei Ciceros Natur der Götter finde ich dieses Buch hier aber weder philosophisch noch literarisch relevant.

Cicero, der eigentlich zu Beginn behauptet hat, hier die sokratischen Gespräche, wie sie sein Idol Platon verfasst hatte, wieder beleben zu wollen, hält die Fiktion eines Gesprächs gerade mal im ersten von fünf Büchern wirklich durch. Dort findet tatsächlich eine Art Diskussion statt zwischen einem Meister und dessen Schüler. In den verbleibenden vier Büchern findet sich dann der Schüler zum Stichwortgeber reduziert, der zu Beginn des Gesprächs eine dumme These oder eine dumme Frage äußern darf (‚dumm‘ aus der Sicht des Meisters, versteht sich, der seinerseits wiederum mit Cicero identifiziert werden muss, weil der die gleichen Bücher geschrieben hat wie dieser), um dann eine lange Vorlesung des Meisters über sich ergehen lassen zu müssen. Zum Schluss ist der Schüler dann von der Ansicht des Meisters völlig überzeugt oder gibt sich zumindest so. Dabei sind des Meisters Argumente keineswegs schlüssig. Sie beweisen oft, was sie stillschweigend bereits vorausgesetzt haben, oder – gar nichts. Das gilt für das Leib-Seele-Problem im ersten Kapitel ebenso wie für die Frage nach dem höchsten Glück (also Platons höchstem Gut) im letzten Kapitel.

Cicero bezieht sich zwar ausschließlich auf griechische Philosophen, allen voran seinen Leitstern Platon. Aber sein Philosophieren unterscheidet sich grundsätzlich vom griechischen Vorbild. Wo dieses – selbst bei Platon, der seinen Sokrates stark auf die Ethik umschwenken ließ, auf Fragen der richtigen Lebensführung – sich noch in hohem Maß mit Fragen der Erkenntnis (Naturphilosophie und Epistemologie) beschäftigt hatte, heißt für Cicero Philosophieren zu finden, wie man auf die richtige Art lebt. Cicero übernimmt von seinem verehrten Platon zwar die Hochachtung für die Mathematik und bedauert sogar, dass, was früher Mittel zum Erkenntnisgewinn war, bei den Römern zu einfachem Zählen und Messen herabgesunken ist; er bewundert Archimedes für dessen mathematisch untermauertes Weltmodell – aber auf den Gedanken, solche Forschungen selber zu treiben oder auch nur ein wenig mehr Mathematik in den Verlauf seiner Gespräche einfließen zu lassen, kommt er nicht. Naturphilosophie und Mathematik bleiben ihm fremd; er bleibt bei den Fragen der Lebensführung – wie die ganze Philosophie seiner Zeit. Denn Cicero war sicher nicht der erste, der diesen Schwenk machte, und bei dem das dazu führt, dass er an Platon, Aristoteles, die beiden Zenon oder Theophrast Fragen stellt, die sie so nicht beantworten können, weil sie sie sich selber nie so gestellt haben. Wann die Entwicklung in diese Richtung begann, kann ich aus dem Stegreif nicht sagen. Sicher ist: Erst im Laufe der Zeit – lange nach jenen Philosophen, die Cicero ständig zitiert – haben Stoa, Akademie oder Peripatetik auf jene Linie eingeschwenkt, die der Römer nun so hartnäckig verfolgt.

Die stillschweigende Voraussetzung, die Cicero trifft, ist die – unterdessen ja auch schon Jahrhunderte alte – römische Kultur, das römische Denken, wie es existierte, lange bevor Rom auf die griechische Philosophie traf. Der Staat, die Republik, steht über dem Individuum. Für den Staat sein Leben zu lassen, ist eine hohe Ehre, und Ehre in dieser Form wird von Cicero zu eben jenem höchsten Glück gerechnet, das einem Menschen widerfahren kann. So darf es nicht wundern, wenn Cicero Passagen aus den Tragödien von Sophokles oder Aischylos kritisiert, weil seiner Meinung nach diese Dichter dort ihre Helden zu sehr über ihr Schicksal, über Schmerzen, klagen, jammern oder gar weinen lassen. Ein echter Römer weint nicht – dieses seltsame Ideal hat sich bis heute in Europa gehalten. Dieses römische Denken hat vieles mit gewissen Formen der Stoa gemein, und so neigt Cicero, bei all seinem eingeborenen Eklektizismus in den Lösungen, die der Meister vorschlägt, stark zu jener Denkrichtung. Was auch dazu passt, dass in der Reihe der hin und wieder zitierten Römer die beiden Cato durch regelmäßiges Erscheinen hervorstechen.

Bei aller Kritik an ihm darf man aber nicht vergessen, dass dank des Vielzitierers Cicero das Wissen um antike Werke (und manchmal ein paar Fragmente daraus) existieren, die ansonsten verschollen wären.

Fazit: Als langweilig empfand ich die Gespräche in Tusculum dieses Mal nicht; ich würde den Text aber nur hartgesottenen Interessent:innen an der antiken Philosophie empfehlen.


Marcus Tullius Cicero: Gespräche in Tusculum. Eingeleitet und neu übersetzt von Karl Büchner. Zürich: Artemis, 21966.

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