Jon Edward Lendon: Rhetorik Macht Rom

Kupferstich auf rotem, ganz rechts außen beigem, Hintergrund: Mehrere Männer in römischer Toga, z.T. gestikulierend, vor einigen antiken Säulen stehend. = Sprecher auf der Rostra auf dem Forum Romanorum in Rom. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Lendon ist einer der bekanntesten US-Amerikanischen Althistoriker. Im vorliegenden Buch legt er eine Idee dar, die von einer althistorischen Kollegin in Glasgow, Catherine Steel, folgendermaßen begrüßt wurde:

Ich kann es gar nicht erwarten, das Buch meinen Studenten in die Hand zu drücken, nicht zuletzt in der Hoffnung, dass es sie ermutigt, die Alte Geschichte als ein Fachgebiet zu betrachten, das immer noch in der Lage ist, kühne und innovative Wege der Forschung zu beschreiten.

Klappentext meiner Ausgabe1*)

Um sein Vorgehen vorzustellen, zitiert Lendon in der Einführung mehrere Texte, die einen Einfluss von Büchern auf das Leben postulieren. So seinen Landsmann Mark Twain, der in seinen Erinnerungen an das Leben am Mississippi schon 1883 Folgendes festhielt:

Eine einzigartige Illustration des guten und schlechten Einflusses eines einzigen Buchs zeigt die Wirkung von Don Quichotte und von Ivanhoe. Jener fegte die Bewunderung der Welt für den mittelalterlichen Ritterunsinn weg, und dieser stellte sie wieder her. Was unseren {US-amerikanischen} Süden betrifft, so ist das gute Werk, das Cervantes leistete, fast toter Buchstabe, so wirksam hat Scotts schädliches Werk es untergraben.

Oder auch – ohne Nennung des ursprünglichen Autors, denn der Spruch ist unterdessen, vor allem im US-amerikanischen Internet, zu einem der meist zitierten und abgewandelten des 21. Jahrhunderts geworden, sozusagen bereits auf dem Weg zum Sprichwort – vom US-amerikanischen Drehbuchautor John Rogers eine Aussage, die ich lieber im englischen Original zitiere, weil mir die Übersetzung hier etwas Altväterisch klingt, während Rogers den Spruch erst 2009 in seinem Blog veröffentlicht hat:

There are two novels that can change a bookish fourteen-year old’s life: The Lord of the Rings and Atlas Shrugged. One is a childish fantasy that often engenders a lifelong obsession with its unbelievable heroes, leading to an emotionally stunted, socially crippled adulthood, unable to deal with the real world. The other, of course, involves orcs.

Eine Aussage nebenbei, die Ayn Rands Pseudo-Philosophie bestens schildert.

Lendon will also nichts Geringeres als den Nachweis führen, dass Literatur tatsächlich einen irgend gearteten Einfluss haben kann auf eine menschliche Gesellschaft. Genauer geht es um die Literatur in Form der Rhetorik – diese wiederum verstanden als jene schulmäßigen Übungen, die in der Antike jeder junge Mann von Stand mitmachte: an Hand einer ungeheuer künstlich konstruierten Ausgangssituation eine Lobeshymne aufstellen oder einen Verriss, für oder gegen eine bestimmte Handlung oder Haltung plädieren oder vor einem fiktiven Gericht für oder gegen den Angeklagten argumentieren. In einer ersten Annäherung können wir aus dem Titel entnehmen, dass die Gesellschaft, auf die eine solche Rhetorik Einfluss gehabt haben soll, das antike Rom war.

Nach einer kurzen Darstellung der Bildung im Römischen Reich, in der Lendon unter anderem festhält, dass die rhetorische Schulung im antik-römischen Bildungswesen über den Lauf der Jahrhunderte eine immer wichtigere Stellung einnahm, bis zum Schluss – gegen das Ende des Weströmischen Reichs – die jungen Männer von Stand praktisch nur noch in Rhetorik ausgebildet wurden. Sie lernten die Welt also vor allem aus rhetorischen Texten kennen, die zu künstlichen Voraussetzungen von ihnen bzw. ihren Mitschülern im Wettstreit selber erarbeitet wurden.

Danach folgen drei Beispiele, die Lendon in aufsteigender Reihenfolge sortiert hat: zuerst der Einfluss der Rhetorik auf eine kleine Gruppe, dann auf eine Stadt (viele einzelne Städte), dann auf das Römische Reich im Ganzen. Ich will die drei Beispiele von hinten her aufrollen, weil mir scheint, dass die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Einflusses beim letzten von Lendons Beispielen am höchsten ist.

Dort nämlich geht es um die beliebte Übung der Gerichtsreden. Lendon stellt fest, dass zwischen dem tatsächlich kodifizierten römischen Recht und den Rechtsgrundsätzen, mit denen die rhetorischen Übungen hantierten, Unterschiede bestanden, zum Teil sogar große Diskrepanzen existierten. Er folgt in diesem Abschnitt den Auseinandersetzungen zwischen rhetorischem Recht und römischen Recht und zeigt auf, wie in vielen Fällen die Gewöhnung der jungen Intellektuellen an das rhetorische Recht machte, dass das römische Recht diesem angepasst wurde, wie solche Änderungen aber auch wieder rückgängig gemacht wurden und wie andere Rechtsgrundsätze gar nicht erst angetastet wurden. Das scheint mir – auch in Anbetracht dessen, was wir in der letzten Zeit unter dem Begriff ‚Fake News‘ erlebt haben – nicht unplausibel.

Das mittlere Beispiel betrifft die Architektur von Städten, vor allem der (nach Lendon) gehäuft auftretende Bau von Prunkbrunnen. Auch das, so Lendon, kommt aus einer rhetorischen Übung, dem Lob der eigenen Stadt und ihrer Schönheiten, bei dem sich langsam, über sich verbreitende Exempel, der große (schöne, aber oft nutzlose) Stadtbrunnen eine prominente Stellung erhielt. Auf Grund der Zahl von betroffenen Städten und Brunnen eine wohl schwieriger festzumachende These, aber wohl auch keine ganz unplausible.

Last (bzw. eben first) but not least: die Verschwörung zur Ermordung Caesars. Zunächst schildert Lendon das ungeheuer komplizierte Vorgehen der Verschwörer,zum Beispiel den Umstand, dass eine ganze Gruppe von Senatoren Caesar umringten und auf ihn einstachen. Warum nicht nur einer? Warum nicht die Gruppe von Gladiatoren, die man vor dem Eingang zum Senat stehen hatte? Warum waren die Attentäter von der Panik überrascht, die sich im Senat und in den Straßen Roms ausbreitete? Warum beschränkten sie sich darauf, sich auf den Kapitolshügel zurück zu ziehen und ein paar Reden zu halten? Warum waren sie abermals überrascht, dass ihnen keiner zuhörte? Warum ließen sie Lepidus und Marc Anton ungestört ihre Gegenmaßnahmen treffen? Lendons Antwort ist verblüffend – und faszinierend. Abermals nämlich ist es in seiner Darstellung die Schulrhetorik, die das Handeln der Attentäter prägt. Der Tyrannenmord bzw. die Verteidigung des Tyrannenmörders war ein Lieblingsthema der Rhetoren. In den Schulen hatte sich der Grundsatz herausgebildet, dass nur der eigentliche Mörder, der der den eigentlichen tödlichen Stich oder Schlag ausführte, als „Tyrannenmörder“ nicht nur Straffreiheit genießen sollte sondern auch die Lobeshymnen der ganzen Bevölkerung. Deshalb legten die Leute um Brutus so viel Wert darauf, einen Tyrannen umgebracht zu haben, deshalb versuchte jeder, der zu sein, der Caesar fällte. Deshalb hielten sie Reden, denn so wollte es die Schule: Man ermordete den Tyrannen, hielt eine Rechtfertigungsrede, war dann auch gerechtfertigt, wurde gefeiert und der Staat kehrte friedlich zurück zu den Gewohnheiten aus der Zeit vor dem Tyrannen. So wollte es das Skript (zum Teil implizit). Doch im vorliegenden Fall hielt sich die Realität nicht ans Skript. Niemand hörte ihnen zu, niemand feierte sie. In Rom ging die Angst um. Wie eine Schallplatte, die hängen bleibt, sahen die Verschwörer nur die Möglichkeit, den Schluss des Skripts noch einmal und noch einmal auszuführen, und hielten Rede um Rede – bis Lepidus und Marc Anton (die offenbar ein ganz anderes Skript gelesen hatten) ihre Soldaten gesammelt hatten und zurück schlugen.

Das ist zumindest eine interessante These, und dass Literatur einen derart großen konkreten Einfluss auf eine ganz konkrete, weltgeschichtlich bedeutsame Tat haben soll, finde ich einen faszinierenden Gedanken.

Wer sich also, im Sinne von Catherine Steel, für kühne und innovative Wege der Forschung interessiert, sollte dieses Buch unbedingt lesen. Trotz der Tatsache, dass es ungefähr zur Hälfte aus Anmerkungen besteht, die wiederum meist Auseinandersetzung mit althistorischer Sekundärliteratur betreffen, das Buch also für Fachleute verfasst wurde – trotz alledem ist das Buch auch für andere historisch oder literarisch Interessierte zugänglich und liest sich ausgezeichnet.


1*) Jon Edward Lendon: Rhetorik Macht Rom. Die Kraft der Redekunst im Imperium Romanum. Übersetzt von Kai Brodersen. Darmstadt: wgb Theiss, 2023. [Die Originalausgabe ist 2021 unter dem Titel That Tyrant, Persuasion. How Rhetoric Shaped the Roman World bei der Princeton University Press erschienen.]

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