Benjamin Lee Whorf: Sprache, Denken, Wirklichkeit

Teil einer Schwarz-weiß-Reproduktion des Gemäldes "In the Black Square" (1923) von Wassily Kandinsky (New York, The Solomon R. Guggenheim Museum). - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Dieses Buch erschien zum ersten Mal 1963 in der Reihe Rowohlts Deutsche Enzyklopädieals N° 147, mit dem Untertitel Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie und enthält acht Aufsätze von Whorf. [Ich hätte statt von Metalinguistik eher, wie Whorf selber, von Metaphysik gesprochen.] Herausgegeben, übersetzt und kommentiert wurde das Ganze damals von Peter Krausser. Mein Exemplar ist das 72.-75. Tausend von 1976. Die Reihe ist längst eingestampft, von Whorf aktuell kein Buch im Handel erhältlich. Vielleicht kaufen sich ja alle Studierenden heute das Buch irgendwo antiquarisch? Immerhin findet man noch ein paar Exemplare. Oder – wahrscheinlicher – man hat auf den Universitäten die Sapir-Whorf-Hypothese ad acta gelegt und vergessen.

Dabei war sie einmal – neben Chomskys Generativer Grammatik – der heiße Sch… an den Instituten für Linguistik. Die acht Aufsätze Whorfs, die in diesem schmalen Büchlein vereinigt sind, behandeln denn auch alle diese Hypothese. Whorf selber sprach noch nicht von einer Sapir-Whorf-Hypothese, aber er war der Meinung, für die Linguistik etwas Ähnliches gefunden zu haben wie Einstein für die Physik: eine die Wissenschaft komplett verändernde Relativitätstheorie. Und er war so naiv zu glauben, dass seine Entdeckung der durch Sprache hervorgerufenen Divergenz von Weltbildern nun auch die Naturwissenschaften sich ändern müssten. (Dass sie es nicht taten zeigt, meiner Meinung nach, dass die Relativität nur oberflächlich betrachtet existiert. Es war Whorf ja zum Beispiel möglich – mit ein paar Verrenkungen –, die Beispielsätze aus der Hopi-Sprache strukturähnlich ins Englische zu übersetzen; und die relativ kleine Bandbreite elektromagnetischer Wellen, die wir als Licht bzw. Farbe sehen, ändert sich auch dann nicht, wenn ich zum Beispiel den Bereich ‚Blau‘ in Sprache A anders definiere als in Sprache B. (Wenn ich mir überlege, wie viele Wörter Grafikerinnen und Schneider kennen, um das zu bezeichnen, was für mich einfach ‚Rosa‘ ist …)

Relativ waren nämlich, Whorfs Meinung nach, die Weltbilder, die die einzelnen Sprachen ihren Sprechern vermittelten. Weil zum Beispiel die Tempora in der Sprache der Hopi anders gebildet werden und anders zusammenhängen als im SAE (= Standard Average European, womit Whorf im Grunde genommen einfach alle Sprachen indoeuropäischen Ursprungs bezeichnete), postulierte Whorf, dass ein Hopi-Physiker eine andere Physik (im Grunde genommen: Mechanik) vorgefunden oder formalisiert hätte als die Europäer. Whorf stützte sich dabei auf Vorarbeiten seines Lehrers Edward Sapir, der wiederum bei Franz Boas gelernt hatte, einem Deutschen, der in die USA ausgewandert war und dort begann, die Sprache der Indigenen zu studieren.

Nun gilt es zu differenzieren. Whorf war von Hause aus kein Linguist, kein Anthropologe oder Soziologe sondern – Chemieingenieur. Er arbeitete für eine Feuerversicherung als Schadensexperte – ein Job, den er sein Leben lang ausübte und worin er sogar Karriere machte. Die Linguistik war sein Hobby und das sollte sie bewusst bleiben. Nur so ist zu erklären, dass er einen seiner linguistischen Aufsätze (Sprache, Geist und Wirklichkeit) in der Zeitschrift einer indischen theosophischen Gesellschaft publizierte, deren Mitglied er war, und wo er denn auch diese seine Relativitätstheorie verglich mit den Ergebnissen, die z.B. das Mantra-Yoga erreicht – ein Über-den-konkreten-Sätzen-Schweben. Mag sein, dass es ebenfalls seinem Amateur-Status geschuldet ist, wenn er den Kawi-Aufsatz Wilhelm von Humboldts nicht kennt und offenbar glaubt, etwas ganz Neues angestoßen zu haben.

Die Theorie faszinierte bei ihrem Bekanntwerden kaum – erst rund ein Vierteljahrhundert später wurden Wortschatz, Grammatik und Syntax der so genannten ‚primitiven Sprachen‘ einer näheren Betrachtung gewürdigt. Whorf (der sich übrigens stets gegen die Bezeichnung einer Sprache als ‚primitiv‘ wehrte) wurde dabei natürlich teilweise revidiert. Wobei nicht alle Revisionen – jedenfalls nicht so, wie sie heute kolportiert werden – ihrerseits richtig waren. Dass Whorf behauptet hätte, die Eskimos hätten 20 oder mehr Wörter für verschiedene Arten von Schnee, stimmt zum Beispiel nicht. Er sprach von deren fünf – und ist dabei darauf hereingefallen, dass in der Sprache der Eskimos eigentlich nur zwei Wörter für Schnee existieren (eines für fallenden, eines für liegenden), aber – ähnlich wie im Deutschen – zusammengesetzte Substantive gebildet werden können. Und dass, manchmal, halt ein Substantiv in der Zusammensetzung morphologisch derart gequetscht wird, dass man seinen Ursprung nicht mehr sofort erkennt. Der Vorwurf, Whorf hätte für seine Beispiele aus der Sprache der Hopi nicht auf eigene Feldforschung zurück gegriffen, stimmt zwar – nur: Whorf hat nie behauptet, Feldforschung betrieben zu haben. (Tatsächlich war seine Quelle ein einziger Mann in New York, dessen Bekanntschaft man ihm vermittelt hatte. Ich habe aber nirgends gelesen, dass seine Darstellung der Hopi-Grammatik fundamental falsch gewesen wäre.)

Meiner Meinung nach steht die Sapir-Whorf-Hypothese als Ganzes auf wackeligen Füssen. Wenn ich von einer Sprache in eine andere wechsle, wechsle ich dann jedes Mal mein Weltbild? (Kleine Anekdote am Rande, die tatsächlich dafür sprechen würde: Ich hatte vor Jahren die Chance, den berühmten George Steiner persönlich kennen zu lernen – in einem zweisprachigen Umfeld. Er parlierte denn auch munter abwechselnd auf Französisch und auf Deutsch drauflos. Was mich damals faszinierte: Sprach er Französisch, war er das Ebenbild eines quecksilbrigen Franzosen, wie er im Bilderbuch steht. Sprach er Deutsch, erinnerte er eher an einen … nun ja … hyperkorrekten Beamten. Ich hatte einige Zeit später noch die Gelegenheit, ihn in Cambridge besuchen zu dürfen. Nun war er der perfekte britische Gentleman …) Wie aber funktioniert das bei Personen, die zweisprachig aufwachsen? Haben die zwei Weltbilder? Oder ein Mischmasch? Wenn ich im Bus junge Frauen höre (junge Männer machen das in meiner Erfahrung weniger häufig, meist nur, wenn sie in Gesellschaft junger Frauen sind), Secondas (junge Italienerinnen waren die ersten, später habe ich das auch bei jungen Spanierinnen gehört), die mitten in einem Satz die Sprache switchen, von Deutsch auf Italienisch oder umgekehrt: Ändern sie da gleich ihr Weltbild mit? Ist es Zufall, dass ich das bei jungen Albanierinnen, Kroatinnen etc. weniger oder gar nicht höre? Oder ist der Grund eine andere Kultur, die dann eben nichts mit der Sprache zu tun hat, sondern mit der geografischen Herkunft (Balkan), eventuell Religion? Ebenfalls nie gehört habe ich es bei jungen Tamilinnen – sie sprechen wie die Frauen aus dem Balkan entweder die eine oder die andere Sprache. Auch hier stellt sich natürlich die gleiche Frage. Und der kleine Junge, der mit seiner Mama Chinesisch spricht, um dann gleich darauf seinem Spielkameraden etwas auf Schweizerdeutsch zu erklären? Solche Erfahrungen machen wir heute immer häufiger. Mag sein, dass die heutige Linguistik sie tatsächlich einmal im Lichte der Sapir-Whorf-Hypothese betrachtet hat, ich habe keine diesbezüglichen Nachforschungen betrieben. Aber dass es komplizierter ist, als der Chemieingenieur Whorf vermutete, steht außer Frage.

Auch über 80 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen in den USA also noch immer eine zu Fragen und Gedanken anregende Lektüre. (Und Antiquare freuen sich auch über Umsatz.)

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