Don DeLillo: The Body Artist [Körperzeit]

Auf schwarzem Hintergrund ganz in Rosa eine stilisierte Frauengestalt mit weißem Pferdeschwanz in einer Tanzpose. – Ausschnitt aus dem Buchcover.

Praktisch unmittelbar nachdem ich hier White Noise von Don DeLillo positiv präsentiert und zur Lektüre empfohlen hatte, erreichte mich eine Reaktion von scheichsbeutel, der das so gar nicht verstehen konnte, hatte ihn doch seinerzeit Körperzeit vom selben Autor sehr enttäuscht. Nun haben wir zwar nicht immer den gleichen Geschmack in puncto Literatur, aber derart eklatante Divergenzen treten dann doch selten auf. Ich war ein bisschen entsetzt und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Nachdem ich in meiner Ungeschicklichkeit zunächst vergeblich versucht hatte, des Buchs habhaft zu werden, habe ich es zum Schluss dann doch gefunden, gekauft und nunmehr auch gelesen.

Noch vor dem eigentlichen Text finden sich in meiner Ausgabe*) verschiedene kleine Ausschnitte aus Zeitungsrezensionen, hierhin gesetzt wohl mangels Platz auf dem hinteren Buchdeckel. Allesamt natürlich Lobhudeleien, sonst hätte sie der Verlag wohl nicht abgedruckt. Die eine oder andere dieser Rezensionen weist dann aber doch darauf hin, dass DeLillo hier ganz anders schreibe als in seinen früheren Büchern – der Roman White Noise wird explizit genannt. Das hat mich bereits etwas beruhigt.

Der Roman beginnt mit Szenen einer Ehe. Genauer gesagt, schauen wir dem Ehepaar Lauren und Rey beim Frühstück zu. Dinge werden aus dem Kühlschrank genommen, hingestellt, vergessen, wieder erinnert, auf den Tisch gestellt. Satzfetzen werden ausgetauscht, bei der ersten Äußerung gar nicht verstanden, weil dem Gegenüber gar nicht zugehört wurde – Alltag in einer Beziehung.

Das zweite Kapitel stellt eine Zeitungsnotiz dar, die vom Selbstmord Reys und dessen Alkoholproblem berichtet. Die Sprache ist eine völlig andere und der Inhalt kommt überraschend, denn nichts im ersten Kapitel wies auf einen Selbstmord oder übermäßigen Alkoholgenuss des Mannes hin. Nun, wir wissen wohl alle, dass es sogar recht häufig vorkommt, dass ein Selbstmord eines Menschen auch für die nächsten Angehörigen und Bekannten überraschend kommt, da man allfällige Signale gern verdrängt. Und dass Alkoholkranke ihre Sucht (und den Gin!) auch vor der engsten Familie verstecken können, ist wohl ebenfalls allgemein bekannt.

Nachdem wir diese Überraschung verdaut haben, erleben wir im dritten Kapitel Lauren, wie sie im Haus, das sie nach wie vor bewohnt, plötzlich einen anderen Mann sieht. Zunächst scheint er ihr auszuweichen, schließlich aber kann sie sogar mit ihm reden. Allerdings bestehen seine Antworten nur aus selbst in der Aussprache detailgenauen Imitationen von Sätzen, die Lauren und Rey unter sich auszutauschen pflegten. Der Schreibstil des dritten Kapitels ist noch einmal ein anderer.

Die Geschichte geht dann ungefähr in diesem Stil weiter. Darauf komme ich gleich, möchte aber dazu noch einmal Anlauf holen bei deren Anfang.

Es geschieht im ersten Kapitel im Grunde genommen rein gar nichts. Es ist dieses von Gewohnheiten gesteuerte, aber keineswegs hasserfüllte Bei- und Nebeneinander eines kinderlosen Ehepaars. Als Teil einer größeren Geschichte ist es allerdings tatsächlich nur grottenschlecht. Als selbständige Kurzgeschichte hätte es Qualitäten, die an die frühen Texte der Kanadierin Alice Munro erinnern, die – nicht zu Unrecht – für solche Kurzgeschichten den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte. Als Kurzgeschichte in einer Sammlung von ebensolchen Kurzgeschichten hätte ich DeLillos erstes Kapitel akzeptiert – als (dazu noch stilistisch fremder) Teil eines längeren Textes ist es mehr als problematisch. Das gilt auch dann, wenn – wie hier – der längere Text selber ausschließlich aus solchen äußerst locker zusammengenähten Teilen besteht. Im Grunde genommen nämlich besteht dieser ‚Roman‘ aus weder stilistisch noch inhaltlich weiter interessanten Kurzgeschichten, die, mit immer derselben Person (Lauren) als Protagonistin, dann doch versuchen, eine fortlaufende Geschichte zu erzählen. The Body Artist weist dennoch weder inhaltlich noch kompositorisch eine brauch- bzw. lesbare Struktur auf, weshalb ich mich auch weigere, dieses Elaborat einen ‚Roman‘ zu nennen.

Halbwegs gelungen ist hier nur das erste Kapitel, noch ein bisschen besser dann das dritte. Dort, in den ersten Begegnungen mit diesem seltsamen Mann, der plötzlich auftaucht, aber schon lange im Haus gewesen sein muss, schafft es Don DeLillo für einen kurzen Moment, eine Atmosphäre des Zweifels an der Realität des von Lauren Gesehenen zu schaffen, die an Henry James’ The Turn of the Screw erinnert. Kombiniert mit den Dialogfetzen, die ihrerseits an Kafka erinnern, haben wir für kurze Zeit eine stimmige Geschichte darüber, wie die Trauer um den Tod einer geliebten Person einen Menschen der Realität entfremden kann. Die folgenden Kapitel aber kümmern sich kaum noch um dieses Thema, auch wenn die Literaturkritik es sehr gern so gesehen hätte.

Tatsächlich also ein sehr wenig brauchbares Stück ‚Literatur‘. Natürlich kann man sagen, dass der Begriff ‚Postmoderne‘, unter den DeLillo ja subsumiert wird, auch übersetzt werden kann mit „Anything goes“. Also auch absoluter Unsinn. Dennoch …

In dubio pro reo. Einen letzten Versucht wollte ich noch machen. Da wir schon von Kafka gesprochen haben: Der Originaltitel The Body Artist erinnert ja sehr an eine Kurzgeschichte Kafkas, Ein Hungerkünstler. Lauren, die Protagonistin, ist ein ‚Body Artist‘. Das ist praktisch unübersetzbar, weil ‚Körperkünstler‘ auf Deutsch nicht existiert**). Wir sprechen allenfalls von ‚Performance-Künstlern‘, auch wenn uns Lauren, wenn sie trainiert, eher an eine Kontorsionistin im Variété erinnert. Dennoch stellte sich mir die Frage: Könnte der Körperkünstler DeLillos (die englische Sprache hat den Vorteil, hier nicht gendern zu müssen) irgendeinen Zusammenhang aufweisen mit dem Hungerkünstler Kafkas? Um meine längeren Versuchsreihen abzukürzen: Nein. Zwar arbeitet auch Kafkas Hungerkünstler mit seinem Körper wie DeLillos Körperkünstlerin. Aber mehr Gemeinsames ist da nicht zu finden. Der Hungerkünstler ist das Symbol für den von der Suche nach Perfektion in seiner Kunst Getriebenen (wie ja auch Kafka selber einer war, der seine Romane nicht für gut genug befand, um der Nachwelt überliefert zu werden). Kafkas Künstler findet die Vollendung seiner Kunst im Untergang der Materie derselben – seines Körpers. Lauren aber öffnet zwar am Ende der Geschichte das Fenster in ihrem Haus, um im Geruch nach Seetang, den die Brise bringt, wieder zu wissen, wer sie ist. Damit ist aber die Geschichte auch schon fertig – der ganze ‚Roman‘ führt nirgends hin. Wir Lesenden wussten ja, bis es uns in diesem Moment gesagt wurde, nicht einmal, dass Lauren nicht mehr wusste, wer sie ist. Und seien wir ehrlich: Wir Lesenden wissen es auch nun, ganz am Ende, nicht, wussten es die ganze Geschichte hindurch nicht.

132 Seiten, die man sich sparen kann – da gehe ich mit scheichsbeutel einig.


*) Don DeLillo: The Body Artist. London: Picador, 2011.

**) Wie man allerdings für die deutsche Ausgabe auf das im Deutschen ebenfalls nicht existierende Wort Körperzeit gekommen ist, entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Der Körper als Körper (sei es Laurens oder irgendjemandes) spielt eine kleine Rolle in der Geschichte der Körperkünstlerin, die wir nur ein paar Mal beobachten bei ihren Dehnübungen. Und die Zeit sowieso – die einzelnen Kapitel sind verblüffend zeitlos und gleichen eher Beschreibungen von Gemälden als von einer irgendwie gearteten Handlung.

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