Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Buch 11-22

Auf dunkelrotem Hintergrund (links und rechts als Balken sichtbar) ein Ausschnitt aus dem Gemälde "Der hl. Augustinus bekämpft die Ketzerei" (veronesisch um 1380): Links ein Engel, der dem ihm zuhörenden Augustinus einflüstert, zwischen diesem und ca. 10 Ketzern. dio in der rechten Bildhälfte stehen, ein Baum. Man sieht praktisch nur die Köpfe, weil es sich nur um einen Ausschnitt aus dem Buchcover handelt.

Eigentlich hatte Augustinus für seinen Gottesstaat eine recht rigide Struktur vorgesehen. Eigentlich … In Tat und Wahrheit trat ihm dann – vor allem im zweiten Teil, in dem es um den eigentlichen „Gottesstaat“ geht, im Gegensatz zum weltlichen Staat – seine Weitschweifigkeit in den Weg. Ich weiß nicht, ob es Altersgeschwätzigkeit war, wie der Herausgeber meiner Ausgabe meint oder ‚nur‘ der Drang nach Vollständigkeit, aber Tatsache ist, dass Augustinus kaum mehr aufhören kann, wenn er einmal begonnen hat für eine seiner Thesen Belegstellen aus der Bibel anzuführen. Wie oft sagt er nicht sinngemäß: „Aber jetzt ist genug. Nur noch eine …“, um dann noch ein paar hinzuzufügen …

Womit schon das erste und etwas sehr Wichtiges gesagt ist zum zweiten Teil des Gottesstaats: Während Augustinus sich im ersten Teil noch stark mit den antiken Philosophen (allen voran Cicero und Seneca, der Stoa allgemein) auseinandersetzt, ist seine Hauptquelle, die er zitiert und bespricht, im zweiten Teil die Bibel. Und da wiederum nimmt Paulus eine zentrale Stelle als Autorität ein; wenn Augustinus der Apostel ohne weiteren Zusatz schreibt, ist immer Paulus gemeint. Ich bin versucht zu sagen, dass die ersten 10 Bücher des Gottesstaats noch im weitesten Sinn der antiken Philosophie, dem antiken Denken zuzurechnen sind, die folgenden 12 des zweiten Teils dann zur Philosophie des Mittelalters überleiten, zur Scholastik – der Gottesstaat also eine Art philosophiegeschichtlicher Scharnierfunkion inne hat.

Womit schon das zweite, ebenfalls sehr Wichtige gesagt ist: Augustinus orientiert sich an Paulus, will sagen, er übernimmt dessen rigiden Positionen in Bezug auf Ehe und Sex oder auch Stellung und Funktionieren (bzw. Funktion) der katholischen Kirche. Im Gottesstaat wird die Sexual- und Körperfeindlichkeit des Abendlandes für die kommenden eintausend Jahre fixiert. Ohne das jetzt psychologisch ausschlachten zu wollen, aber es hat schon ein ‚Gschmäckle‘, wie der Schwabe sagt, wenn ein alter Mann, der wahrscheinlich nicht mehr kann und (deswegen?) nicht mehr will, den jungen Leuten vorschreibt, dass Sex nur in der christlichen Ehe und nur zur Erzeugung von Nachwuchs ‚gut‘ ist – zumal, wenn man weiß, dass dieser alte Mann es in seiner eigenen Jugend durchaus krachen ließ. Der Text wird nachgerade komisch, wenn sich Augustinus Gedanken darüber macht, wie sich Adam und Eva im Paradies fortgepflanzt hätten, hätten sie nicht vom Baum der Erkenntnis genascht. Es wäre dann, meint Augustinus, dem reinen Willen möglich gewesen, was heute nur die Lust vollbringt (und er meint damit wohl die Erektion des männlichen Glieds). Abgesehen davon, dass Augustinus auch hier einen von Gott unabhängigen menschlichen Willen und dessen Freiheit postuliert, was in anderer Hinsicht theologisch wichtig ist – wenn Gott alles vorher wusste, wie Augustinus nicht müde wird zu betonen (und was er streng davon trennt, dass Gott alles vorher bestimmt hätte), dann muss er auch gewusst haben, dass der Fall einer Fortpflanzung im Paradies gar nicht erst eintreten würde. Deshalb, müsste sich Augustinus gesagt haben: So, wie die alten Verfasser des Buchs Genesis diesen Fall gar nicht erst angesprochen haben, hat sich Gott wohl auch nicht darum gekümmert und Vorsehungen getroffen. Aber Augustinus legte offenbar Wert darauf, seine eigene Altmänner-Lustfeindlichkeit in Gott verankert zu haben.

Im Übrigen liefert Augustinus hier eine Art Geschichte des Gottesstaates, will sagen: der Kongregation der Gläubigen. Er beginnt bei Adam und Eva im Paradies und führt die Geschichte genealogisch weiter bis hin zur Babylonischen Gefangenschaft des jüdischen Volks. Von Anfang an, oder zumindest seit Kain und Abel, gibt es für ihn ein Nebeneinander der beiden Staaten, des weltlichen und des göttlichen. Dass dabei die Bürger des Gottesstaates auch dem weltlichen Staat dienen dürfen, soweit ihr Glaube nicht tangiert ist, gehört zu den Errungenschaften dieses Buchs. Selbst der Griff zur Waffe ist erlaubt, wenn er rein in Verteidigung des weltlichen Staats geschieht. (Augustinus reagierte hier nicht nur auf den Umstand, dass viele christliche Römer sich weigerten die Stadt Rom verteidigen zu helfen, als die Vandalen sie im Jahr 410 angriffen und kurzfristig eroberten. Er reagierte wohl auch und vor allem darauf, dass sich nunmehr, im Jahr 430, Hippo Regius, die Stadt, in der er als Bischof amtierte, nicht mehr der sichere Rückzugsort darstellte, als der er noch 410 gegolten hatte und weshalb viele aus Rom nach Hippo Regius flohen. Im Gegenteil: Bei Vollendung des 22. Buchs standen die Vandalen auch vor den Toren dieser Stadt. Augustinus erlebte ihre Einnahme nicht mehr; er starb kurz vorher. Aber dass die Gefahr, die vorher rein hypothetisch bestanden hatte, nunmehr real war, war ihm wohl bewusst.)

Die (geschichtlichen) Folgen dieses Textes sind immens. Die Nebenordnung von weltlichem und göttlichem Staat (verkörpert in der katholischen Kirche) sollte in den folgenden Jahrhunderten zu einem staatsphilosophischen Dogma werden. Die Zwei-Schwerter-Theorie, die eigentlich zur Befriedung der Streitigkeiten zwischen Papst und Kaiser entwickelt wurde, sollte leider ihrerseits Anlass zu blutigen Auseinandersetzungen geben. Und noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stritten sich lutheranische Theologen unter dem Stichwort „Die Zwei-Reiche-Lehre“ darüber, wie gemäß Luther die beiden Reiche von einander zu trennen wären (Luther selber hat sich, wenn ich mich nicht irre, nie wirklich dazu geäußert).

Fazit: Ein an und für sich – vor allem wegen seiner nicht nur kirchenhistorischen Konsequenzen interessanter Text, der allerdings darunter leidet, dass Augustinus nicht aufhören kann, Belegstellen im Dutzend zu präsentieren.


Teil I und Teil II habe ich in folgender Ausgabe gelesen:

Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen. München: dtv, 41978. [Die Ausgabe basiert auf der bei Artemis & Winkler 1955 erschienenen. Es handelt sich, wie immer bei Artemis & Winkler, um eine gute Leseausgabe.]

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