G. E. R. Lloyd: Greek Science

Naturwissenschaft im antiken Griechenland – so ungefähr würde ich den Titel dieses Buchs übersetzen. (Meine – zugegeben nur flüchtige – Suche nach einer deutschen Übersetzung hat kein Resultat gebracht. Zwar führen einige Bibliotheken im deutschsprachigen Raum Bücher von Lloyd in ihrem Bestand auf, aber keines seiner Werke scheint in einer deutschen Version zu existieren. Auch die deutschsprachige Wikipedia listet nur englische Titel. Das ist einigermassen erstaunlich, ist doch Lloyd im englischsprachigen Raum ein bekannter Altphilologe. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschafts- und Philosophiegeschichte der Antike – und Chinas. In seinen Werken zeigt er ein für einen Altphilologen ohne spezielle naturwissenschaftliche Ausbildung verblüffende Kenntnis vor allem der mathematischen Konzepte der alten Griechen. Eine verblüffende Kenntnis und eine ebenso stupende Fähigkeit, diese seinem Publikum zu vermitteln – einem Publikum, das nicht nur aus Kollegen und Kolleginnen der Altphilologie besteht. Viele seiner Werke – so auch das vorliegende – sind für ein breiteres Publikum konzipiert.)

China übrigens wird auch in Greek Science kurz erwähnt, wenn Lloyd auf die grundlegende Differenz hinweist, die die griechische von der chinesischen Art, Forschung zu betreiben, trennt: Während in China Lernen und Forschen bedeutete, die Meinung seines Lehrers (Frauen in der Naturwissenschaft gab es offenbar im alten China so wenig wie im alten Griechenland) ohne Widerspruch zu akzeptieren und zu assimilieren, war die Diskussion jeder Form von Theorie oder Forschung grundlegender Bestandteil naturwissenschaftlichen Vorgehens in Griechenland. Da praktisch durch die gesamte Antike hindurch philosophisches und naturwissenschaftliches Forschen und Theoretisieren zusammen gingen, ist Greek Science nicht nur eine Wissenschafts-, sonder zugleich eine Philosophiegeschichte. (Mit der Ausnahme, dass Lloyd ethische oder in weitestem Sinne soziologische Ansätze des griechischen Denkens beiseite lässt. Weshalb denn Sokrates zum Beispiel kaum Erwähnung findet – Sokrates, der der Philosophie die Wendung zum Ethisch-Moralischen gab.)

So weit zu China, das dann im weiteren Verlauf des Textes keine Erwähnung mehr findet. Greek Science ist in zwei Teile geschieden: Teil 1, Early Greek Science: Thales to Aristotle, stellt die Vorsokratik vor bis und mit Platon und Aristoteles, aber de facto ohne Sokrates, und auch die mit Sokrates zeitgenössischen Sophisten spielen eine marginale Rolle. Teil 2 nennt sich Greek Science After Aristotle und stellt die hellenistische Epoche der griechischen naturwissenschaftlichen Forschung vor. Diese beiden Teile sind ursprünglich 1970 und 1973 als separate Bücher erschienen. Die Zäsur zwischen Teil 1 und Teil 2 ist keine zufällige, hat doch nach Lloyd Alexander der Grosse mit der Schöpfung seines Weltreichs die Antike grundlegend verändert. Selbst wenn dessen eigenes Reich nur kurzfristig existierte, hat er doch die relativ enge Beschränkung des antiken Denkens (hie Griechenland, plus-minus bestehend aus dem, was wir heute „Griechenland“ nennen, einigen Kolonien in Kleinasien, Sizilien und im heute italienischen Stiefel – da die Barbaren) gesprengt. Plötzlich wurde die Welt grösser. (Und bedrohlicher, weshalb – das einer der wenigen Ausflüge Lloyds in ethicis – die anzustrebende Glückseligkeit der philosophischen Schulen und Denker von einem proaktiven Anstreben des Glücks und der Harmonie sich vor allem bei den Stoikern wandelte in eine passiv sich zurückziehende Vermeidung von Schmerz.) Für die Naturwissenschaft bedeutete die Erweiterung des griechischen Gesichtskreises, dass sich die potentielle Gemeinschaft der Naturwissenschafter vergrösserte. Ausserdem wurde die Forschung institutionalisiert: Waren es vorher einzelne Denker, eventuell noch deren Schulen, die naturwissenschaftliche Thesen aufstellten, so wurden nun Bibliotheken und Museen gegründet, wo sich Forscher treffen konnten jenseits einer Einordnung in Schulen. Solche Institutionen mit ihrem fest angestellten Personal kosteten Geld, und so wurde (damals schon!) ihre Finanzierung zu einem Politikum. Viele Herrscher, als erstes Beispiel Ptolemäus I. Soter in Ägypten, – viele Herrscher also der aus dem riesigen Reich Alexanders des Grossen hervorgegangenen Diadochen-Reiche fanden Ruhm, Ehre und Glanz darin, solche Institutionen zu ’sponsern‘, wie wir heute sagen würde. Viele, aber nicht alle – was die Finanzierung der Bibliotheken und Museen immer zu etwas Prekärem machte.

Unter diesen Umständen wundert es wohl nicht, dass die ganze Antike hindurch die meiste Forschung von Denkern stammte, die wohlhabenden Familien entstammten, und aus eigenen Mitteln lebten. Am wenigsten gilt das vielleicht für die grosse Zahl der Ärzte, die wir unter ihnen finden. (Ursprünglich widmete sich das antike naturwissenschaftliche Denken jenen Gebieten der Forschung, die wir heute der Astronomie zuordnen würden, der Physik, der Mathematik und eben der Medizin. In weitestem Sinn ging es allen diesen Denkern um den Zusammenhang der Welt, um deren grundlegenden Bestandteile. Erst mit Aristoteles kamen sog. ‚beschreibende‘ Naturwissenschaften hinzu: Er öffnete das weite Feld der Biologie und der Physiologie, das denn bezeichnenderweise auch von den beiden ersten Nachfolgern als Schulhäupter des Lyzeums, Theophrast und Straton von Lampsakos, mit dem grössten Erfolg weiter beackert wurde.

Irgendwann hatte sich die – sowieso immer dünne – Schicht der antiken Naturwissenschafter erschöpft. Das Römische Reich kannte noch Ausschreiber (Lukrez – der allerdings für unsere Kenntnis das atomistischen Denkens, Leukipps und Demokrits, unverzichtbar ist) und mehr oder weniger unsystematische Kompilatoren (Plinius und Aulus Gellius). Das Christentum versetzte der antiken Naturwissenschaft dann den Todesstoss. Dabei war es weniger Augustin (sonst für sehr viele Schandmale des Christentums als Ursprung festzumachen), sondern bereits lange vor ihm Leute wie Origenes, Tertullian oder Laktanz, die die geoffenbarte Wahrheit als die einzig Gültige und von daher erstrebenswerte definierten.

Was bleibt von den alten Naturwissenschaften? Da ist, nach Lloyd, Platons Errungenschaft der Mathematisierung physikalischer Probleme. Da sind Aristoteles‘ präzise Beschreibungen biologisch-zoologischer Phänomene, die stilbildend für die Nachwelt wurden. Da ist aber auch – vom selben Denker – das geozentrische Weltbild mit den diversen die Erde umgebenden Sphären, die vier Elemente Wasser, Feuer, Erde und Luft, sowie – als fünftes Element – der Äther, der irgendwie die himmlische Sphäre der Fixsterne von den übrigen trennen musste, da diese Sterne offenbar unbewegt am Himmel standen, währen die andern Sphären rotierten und sich zu beeinflussen schienen, da ist auch der ‚horror vacui‘, den die Natur nach Aristoteles empfinden sollte. Alles Dinge, die auf Jahrhunderte, ja Jahrtausende, und einzig auf Grund der Autorität des Aristoteles, die nachfolgende naturwissenschaftliche Forschung prägten (und hinderten).

Lloyds Buch (zwei Bücher) zur antiken Naturwissenschaft kann ich in ihrer leicht fasslichen und doch präzisen Beschreibung des Themas ‚Antike Naturwissenschaft‘ nur empfehlen. Selbst die – auf uns heute fremden Grundlagen basierende – Mathematik der alten Griechen wird bei im leicht verständlich. (Abbildungen tragen das ihre dazu bei.) Schade, dass sich offenbar nie jemand die Mühe nahm, diese(n) Titel ins Deutsche zu übersetzen…

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