Wer weiß, welche Rolle der Dichter Heym heute inne haben würde. (…) Der frühe Tod hat dem Werk des Jungvollendeten seine letzte Prägung gegeben.
So Monika A. Weißenberger am Schluss eines kurzen biografischen Abrisses zu Heym, der ans Ende der vorliegenden Werk-Ausgabe (im Jahr 2005 bei Zweitausendeins erschienen) gestellt wurde.
Diese Aussagen, und die ganze Ausgabe an sich, stellt mich vor zwei Probleme: Ist es gerechtfertigt, bei Heym von einem Früh- oder Jungvollendeten zu sprechen? Ich mag dieses Wort so oder so nicht – es klingt in meinem Ohren immer ein wenig wie: „Schon gut, dass er / sie gestorben ist; es wäre sowieso nichts Gescheites mehr nachgekommen.“ Dann mag es auch bei AutorInnen, die ihren Tod kommen sehen, weil sie an einer Krankheit leiden, die ihnen bekannt ist, noch eher zutreffen, dass sie – ähnlich wie Blumen kurz vor dem Verdursten – eine Art Angstblüte generieren, um wenigstens das Überleben der Art zu sichern, wenn auch das Individuum stirbt. Aber Heym ist völlig überraschend bei einem (wie wir heute sagen würden) Sportunfall ums Leben gekommen. Wir haben von ihm einige ausgezeichnete Gedichte, das ist wahr. Aber „frühvollendet“ war er meiner Meinung nach keineswegs. Dafür ist – jenseits einiger seiner Gedichte – zu wenig Substanz vorhanden.
Was mich zum zweiten Problem führt: Ist es sinnvoll, bei einem Autor, der mit 25 Jahren gestorben ist, eine Werk-Ausgabe zu veranstalten? Gibt es genug Material – genug gutes Material –, um einen Ziegelstein von nicht ganz 1’400 Seiten im Format A5 zu füllen? So leid es mir tut: Auch diese Frage ist im vorliegenden Fall zu verneinen.
Schauen wir den Inhalt dieser Werk-Ausgabe an. Da ist zuerst Der Dieb / Ein Novellenbuch. Zwar ‚Novellen‘ im eigentlichen Sinn sind es keine – doch dieser literaturwissenschaftliche Begriff ist schwammig, also lassen wir es dabei. Die kurzen Geschichten stammen alle aus dem Jahr 1911; die Sammlung wurde 1913 postum veröffentlicht, aber Heym hatte noch daran mitgearbeitet. Wir finden die ‚typischen‘ Topoi der expressionistischen Prosaliteratur: den Wahnsinn / den Irren, den Tod / die Toten, aufgeplatzte Leichen und aufgeschlagene Schädel, Angst. Es ist Heym zu Gute zu halten, dass er einer der ersten war, der diese ‚Horror-Ästhetik‘ in die deutsche Literatur eingeführt hatte. Heute – und das ist vielleicht das Erschreckende – lesen wir solche Geschichten bereits mit einem gewissen Ennui. Interessant fand ich nur zwei kurze Fragmente in den Nachgelassenen Prosastücken und Skizzen. Natürlich enthält dieser Abschnitt, was zu erwarten war: viel Unvollendetes – unvollendet wohl vor allem deshalb, weil der Autor selber merkte, dass sich darin viel Zweit- und Drittklassiges tummelte. Aber es gibt auch – ebenfalls aus dem Jahr 1911 wie die veröffentlichten Novellen – zwei Skizzen über eine Südpolfahrt eines gewissen Shakleton (in der Orthographie Heyms), dessen Tagebuch der Autor Heym fingiert, und der von der Ankunft der Forscher im Inneren des antarktischen Kontinents schreibt, wo sie auf offene Weiden und landwirtschaftlich kultiviertes Land treffen. Die Menschen hier – wenn es Menschen sind – verfügen offenbar über okkulte Kräfte und sind im Stande, die Forscher festzunehmen, ohne körperliche Gewalt anzuwenden. Sie werden in einen Kerker geworfen – wohl, um dort zu verrotten. An ihrer Stelle senden Antarktiker Duplikate (Heym spricht von Golems) der Forscher zurück nach Hause. Das Setting und einige Plot-Twists könnten von Lovecraft sein, und es ist schade, dass Heym hier nicht weitermachte.
Daneben weitere kleine Schriften, unter anderem eine kurze Staatsutopie im Gefolge des Staates von Platon, wo der noch nicht 20-Jährige über die Position des Genies im Staat nachzudenken versucht, dabei aber zugleich ein aktives Wahlrecht in diesem Staat erst ab dem 45. Altersjahr zugestehen will …
Dafür schrieb er – immer noch keine 20 Jahre alt – Unmengen an Dramen. Diese nun sind wohl das Überflüssigste an der ganzen Werk-Ausgabe. In seinen Dramen entpuppt sich Heym als der Epigone der Epigonen. Langatmige Historiendramen in Blankversen, denen man die Mühe der Versifizierung ebenso anmerkt, wie die Abhängigkeit von den Klassiker-Epigonen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. So schreibt er ab 1907 Der Feldzug nach Sizilien, in dem er mehr oder minder den Bericht des Thukydides über die sizilianische Expedition unter Alkibiades dramatisiert. Einzig der überraschende Schluss erregt Wohlgefallen. Ansonsten ist das Drama viel zu lang und viel zu konventionell. Wenn man bedenkt, was in dieser Zeit das expressionistische Drama unter Toller oder Hasenclever werden konnte … Heym allerdings hat in seinem zarten Jünglingsalter nichts erlebt und flüchtet deshalb in die Vergangenheit, die er aber auch nicht kennt. So werden neben dem alten Athen das alte Rom (Catilina!) oder auch Italien zur Zeit der Renaissance sein Lieblingsthema. Es wird viel bramarbasiert, intrigiert, mit Dolchen und Schwertern hantiert, von vorn und von hinten erstochen oder Köpfe abgeschlagen. Auch Folterszenen dürfen nicht fehlen.
Nur in der Lyrik, und auch da erst in den ab ca. 1910 geschriebenen Gedichten, zeigt sich, warum Heym noch heute gelesen werden sollte. Seine kühne Verwendung von farblichen Metaphern – bei aller konservativen Handhabung des Versmaßes (Sonette allerorten) – ist für den Expressionismus stilbildend geworden. Es herrschen satte, grelle Farben in seinen Gedichten, meist Primärfarben (rot, gelb und blau), schon weniger sekundäre Farben wie Grün und noch stärker ‚gebrochene‘ Farben finden wir fast gar nicht – hin und wieder einen violetten Himmel, an das Auftreten der Farbe Rosa kann ich mich ein einziges Mal erinnern. Zunehmend aber werden die Farben weniger. Sekundäre Farben, schon gar Violett und Rosa, verschwinden ganz, von den primären bleibt fast nur Rot (für die Sonne, aber auch den Tod). An die Stelle der Farben treten Schwarz und Weiß, auch Grau. Wörter wie Schatten oder fahl zeigen Abstufungen an.
Zum Abschluss dann Ausschnitte aus Heyms Tagebüchern. Was damit? Der Autor wurde nicht alt genug, um wirklich etwas zu erleben, das über den Horizont eines intelligenten und aufsässigen (zunächst) Gymnasiasten bzw. (später) Studenten ging. Beobachtungen der ‚Außenwelt‘ jenseits seiner Freunde und (potentiellen) Geliebten kann man von diesem Alter nicht verlangen. Denn Georg Heym hat mit 17 begonnen, Tagebuch zu führen. Aber, seien wir ehrlich und sehen es ihm nach: Was kann ein 17-Jähriger seinem Tagebuch anvertrauen? Außer erotischem Kuddelmuddel und ersten größenwahnsinnigen Phantasien über seine Qualitäten als Dichter? Wir finden Hinweise auf seine Lieblingsautoren: Grabbe, Büchner, dann vor allen Hölderlin, aber auch Kleist und Novalis im Deutschen, den Engländer Byron, die Franzosen Baudelaire, Verlaine und Rimbaud. Bei seinen Lieblingsmalern bleibt er ganz klassisch in der Renaissance mit da Vinci und Michelangelo. Seine Lieblingsphilosophen stammen hingegen aus verschiedenen Epochen: Heraklit, der schon genannte Platon, Schopenhauer und Nietzsche. Seine literarischen Freundschaften: Hiller und van Hoddis. Sein Lieblingskomponist (er hat offenbar nur einen): Jacques Offenbach. Unter den Autoren noch die, die ihm am wenigsten sympathisch sind, über die er sich lustig macht: George (den Kleinschreiber), Rilke (Frau Maria Rilke, ein ziemlich kindischer Witz, aber diese Bemerkung war nicht zur Veröffentlichung gedacht), Wundt, Wildenbruch und Hesse – von den Namen, die man heute noch einigermaßen kennt. Zu Wedekind scheint er ein ambivalentes Verhältnis gehabt zu haben.
Last but not least noch dies: ich habe dieses Aperçu mit einem Zitat über Heym begonnen, ich werde es mit einem von ihm über andere beenden, nämlich einem Entwurf zu einer Rezension (?):
Ein Mann, namens Avenarius, von Beruf Wart der Kunst, nimmt es sich heraus in seinem Käseblatt für literarische Geheimratstöchter den Dichter Karl May anzugreifen, und ihn als einen Schundliteraten seinem Leserkreise zu denunzieren. Karl May, dessen großartige Phantasienatürlich [sic!] von diesem, wöchentlichen Mist-Fabrikanten niemals begriffen werden kann. Sein Hauptargument für die Inferiorität Mays ist, daß May einige Jahre – hu, hu, als Schmuggler und Räuber gelebt habe, – eine Tatsache, die dem Dichter von vornherein das Wohlwollen eines anständigen Menschen sichert.