Auf der Schutzfolie meines Buchs prangte ein Aufkleber, quietschrot mit weißer Schrift: Dem »jüdischen Fontane« zum 150. Geburtstag am 7. Oktober 2021. Einmal mehr komme ich also zu spät zur Party, aber nicht deswegen zitiere ich den Kleber, sondern weil ich dessen Aussage einerseits nicht mag, andererseits nicht korrekt finde. Und beides gleich doppelt, nämlich für das Wort „jüdisch“ wie für den „Fontane“. Der Reihe nach:
Ja, Georg Borchardt (der als Schriftsteller den Vornamen seines Vaters zum Pseudonym nahm) war Jude. Ja, er wurde mit dem Roman Jettchen Geberts Geschichte (1906-1909) und dessen Fortsetzung Henriette Jacoby (1908), die beide im liberalen jüdischen Milieu der Mitte des 19. Jahrhunderts spielen, in Deutschland berühmt. Ich weiß nicht, wie weit in diesen beiden Romanen das Judentum wirklich eine Rolle spielt, ich kenne keinen der beiden. Wenn, dann scheint Georg Hermann über das spezifisch Jüdische hinausgekommen zu sein. Wohl ist auch Dr. Herzfeld, der Protagonist des vorliegenden Romans von 1912, ein Jude. Das spielt aber für die Geschichte keine Rolle; es scheint auch nur einmal auf, als sich Herzfeld einen Moment an eine Szene aus seiner Kindheit erinnert – offenbar ein jüdisches Fest, an dem auch ein oder mehrere Rabbiner teilnahmen. Aber im Grunde genommen hätte er sich gerade so gut an eine katholische Messe erinnern können. Privat war Borchardt, was er selber einen „Westjuden“ nannte – zwar jüdischer Herkunft, aber mit dem jüdischen Glauben und den jüdischen Traditionen kaum verbunden. Säkular, wie es ja auch die meisten Christen sind, die allenfalls an Beerdigungen und Taufen eine Kirche von innen sehen. Da die Nazis keinen Unterschied zwischen Ost- und Westjuden machten, sondern nur auf die Herkunft schauten, konnte ihn auch sein säkulares Judentum nicht retten. Er vermochte zwar noch aus Deutschland zu fliehen, aber leider nur bis Amsterdam. Als das Dritte Reich die Niederlande annektierte, wurde er, wie so viele andere, zurück transportiert und in Auschwitz vergast.
Auch das mit Fontane ist so eine Sache. Ja, Berlin spielt in Georg Hermanns Romanen (auch in diesem hier) eine wichtige Rolle. Aber stilistisch wie inhaltlich weist zumindest Die Nacht des Dr. Herzfeld auf andere Einflüsse hin. Die Sammelleidenschaft des Protagonisten Herzfeld – nämlich alte japanische Kunstwerke – zeigt auf den französischen Naturalismus zurück, nämlich die beiden Goncourts. Diese werden auch namentlich erwähnt. In der Einstellung zu seinen Büchern – Dr. Herzfeld besitzt eine ganz passable Bibliothek, zumindest sein Nachbar Hermann Gutzeit, der Feuilletons für kleinere Provinzzeitschriften verfasst, beneidet ihn darum – in der Einstellung zu seinen Büchern also gleicht er Joris Karl Huysmans‘ Des Esseintes aus dessen Roman À rebours, der sich nun seinerseits (auch) an Edmond de Goncourt orientiert. Schließlich ist der Höhepunkt des Romans, als Dr. Herzfeld physisch und psychisch erschöpft am Stadtrand von Berlin sieht, wie ein Kutscher seine Pferde so lange schlägt, bis eines davon wild geworden sich im Hals seines Kameraden verbeißt, und selber zusammenbricht, formal wie inhaltlich eine Nietzsche-Reminiszenz, wie wir sie im Expressionismus finden könnten. Und als Motto hat Georg Hermann einen Ausschnitt aus einem Gedicht von Paul Verlaine genommen. In diesem Spannungsfeld zwischen Naturalismus, Symbolismus und Expressionismus also finden wir unseren Autor. Den deutschen Realismus weist er sogar explizit zurück – oder zumindest seine Figuren. Wenn nämlich die Ditopassablen (ein Ausdruck, den Dr. Herzfeld geprägt hat, um jene Gruppe von Männern zu beschreiben, mit denen er sich fast jeden Abend im Kaffeehaus trifft, und die ein bisschen Bohème sind, ein bisschen intellektuell und ganz fest bürgerlich) – wenn diese Leute also über Literatur diskutieren, dann ist es Heine, den sie hervorheben. Nicht, weil er Jude ist, sondern weil er ihrer Meinung nach der einzige ‚moderne‘ Autor des 19. Jahrhunderts ist. Während Raabe, so die einhellige Meinung der Ditopassablen, in ein paar Jahren nicht mehr gelesen werden wird. Fontane glänzt in diesem Roman durch Abwesenheit. Nebenbei: Im Netz bin ich auf einen Feuilletonbeitrag in einer renommierten Zeitung gestoßen, wo anlässlich einer Wiederveröffentlichung eines anderen Buchs von Georg Hermann im Titel etwas von einem kleinen Fontane geschrieben worden war. Der Leiter eines Feuilletons, der so etwas durchwinkt, gehört meiner Meinung nach fristlos entlassen … Es gibt kein besseres Mittel, einen Autor definitiv zu vernichten, als ihn mit einem anderen, bekannteren zu vergleichen. Solch ein Ausdruck ist im Grunde genommen Rufmord.
Also kein jüdischer Autor und kein Fontane. Sondern etwas ganz anderes, Eigenständiges. Auf etwas über 200 Seiten erzählt Georg Hermann praktisch nur von zwei Spaziergängen des Dr. Herzfeld durch Berlin. Der eine, der vom frühen Abend bis in den frühen Morgen geht, und auf dem er von seinem Nachbarn Hermann Gutzeit begleitet wird, führt ihn durch fast alle Gesellschaftsschichten, die das Berlin der 1910er Jahre aufzuweisen hatte – eine Stadt, die gerade auf dem Weg war, eine Weltstadt zu werden und bereits entsprechendes Personal aufwies. Mit feiner Ironie folgt der Autor seinen beiden Protagonisten. Wir befinden uns dabei immer wieder in den Gedanken des Dr. Herzfeld, der seinerseits mit ironischer Überlegenheit das Geschehen um ihn herum wahrnimmt. Der zweite Teil sieht dann den Dr. Herzfeld allein durch Berlin marschieren. Ihm ist auf dem ersten Spaziergang eine Kokotte über den Weg gelaufen, die er vor vielen Jahren einmal geliebt hat – und die ihn mit Syphilis angesteckt hat. Herzfeld macht sich Vorwürfe, dann seinerseits Jahre später seine heiß geliebte Frau angesteckt zu haben, worauf sie bei der Geburt der gemeinsamen Tochter ebenso gestorben ist wie diese Tochter selber. Herzfeld – und hier kippt die Geschichte vom Ironischen ins Düstere – plant, sich an dieser Kokotten zu rächen, erst sie zu erschießen und dann sich selber. Dass er auf dem Weg zu ihr in einer Art zunehmenden Wahn planlos aus Berlin hinaus marschiert, bis er nach seinem Zusammenbruch (sozusagen geheilt) wieder nach Hause kommt, wird ohne jedwelche Ironie und ohne jedwelche Distanz des Autors sehr direkt geschildert – wir haben also einen ziemlich stark spürbaren Bruch zwischen dem ersten und dem zweiten Spaziergang. Es ist, als hätte Georg Hermann das Schicksal Berlins und des Deutschen Reichs bereits geahnt.
Auf über 200 Seiten geschieht in Die Nacht des Dr. Herzfeld praktisch nichts. Aber dieses Nichts wird meisterhaft dargestellt. Wir treffen auf Figuren voller prallen Lebens und mit all den Widersprüchlichkeiten, in die sich der Mensch nun einmal verstrickt. Nein, kein Fontane. Auch kein Raabe oder Heine. Sondern eine ganz eigene Stimme. Und zumindest Die Nacht des Dr. Herzfeld hätte einen prominenteren Platz im Pantheon der deutschen Literatur verdient, als sie aktuell einnimmt.
Georg Hermann: Die Nacht des Dr. Herzfeld und Schnee. Mit einem Nachwort von Lothar Müller. Berlin: Die Andere Bibliothek, 2021. (= Band 442)