Die Reise zur Sonne ist die direkte Nachfolgerin der Reise zum Mond und schließt unmittelbar daran an. Unser namenloser Ich-Erzähler ist zurück in Frankreich, wo er einigen Freunden von seinen Abenteuern auf dem Mond erzählt hat. Die Geschichte verbreitet sich in der Gegend, und ein ambitiöser Dorfpfarrer sieht eine Gelegenheit, sich zu profilieren. Dies in zweierlei Hinsicht: Einerseits als Geistlicher, der eine bessere Pfründe anstrebt, andererseits hätte er eine zusätzliche juristische Handhabe, dem adligen Landesoberherrn im Namen der Kirche ein paar Steuerprivilegien abzujagen. Cyrano steht in dieser Sache völlig auf Seiten seines fiktiven Standesgenossen. Der Ich-Erzähler aber wird ein paar Mal gefangen genommen und dabei bis auf die Haut ausgenommen und ein bisschen gefoltert. Schlussendlich gelingt es ihm zu entkommen, indem er eine Art Luftschiff erbaut, das sinngemäß so funktioniert, wie die späteren Heißluftballone, nur, dass dieser Mann hier die Luft nicht mit Feuer erhitzt, sondern durch ein raffiniertes Arrangement von Spiegeln das Sonnenlicht dergestalt bündelt, dass sich in dessen Fokus die Luft erhitzt, aufsteigt und sein Gefährt in die Lüfte trägt. (Nach der Satire auf die Inquisition also Science Fiction im eigentlichen Sinn des Wortes: Anwendung bekannter wissenschaftlicher Gesetze für unbekannte Anwendungen in fiktivem Zusammenhang.)
Eigentlich hatte unser Ich-Erzähler nur im Sinn, mit seinem Luftschiff in den Norden Frankreich zu fliehen, in Gefilde mit bedeutend weniger religiösem Fanatismus. Dummerweise verhält sich sein Gefährt aber nicht ganz so wie errechnet bzw. gewünscht. Es trägt seinen Erbauer im Gegenteil immer höher statt immer weiter. Selbst als es dort ankommt, wo es keine Luft mehr gibt, steigt es weiter, indem nunmehr der Äther des Alls die Funktion der Luft übernimmt und durch Erhitzung im Spiegelsystem das Luftschiff weiter steigen lässt. (Die genaue Funktionsweise der Schwerkraft war zu Cyranos Zeit noch nicht bekannt.) Seine Reise gibt dem Ich-Erzähler Gelegenheit, eine ganze, materialistische Schöpfungstheorie zu entwerfen, bei der er sich im Übrigen in vielem an Cyranos Freund Gassendi orientiert. Natürlich akzeptiert und referiert er auch die damals gerade neue Astronomie eines Kopernikus. Wo Die Reise zum Mond noch viel mehr Sozialkritik und -parodie übte, dient Die Reise zur Sonne in bedeutend höherem Maß einer Propaganda für die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse der frühen Aufklärung.
Schließlich kommt der Erzähler aber doch auf der Sonne (oder einem ganz in ihrer Nähe sie umkreisenden, von der Erde aus unsichtbaren Trabanten? – Cyrano ist hier nicht ganz klar) an. Das erste, was er hört, sind die Stimmen uralter Bäume, die sich – ein Privileg des Alters! – über verschiedene größere und kleinere Gebresten und die Mittelchen dagegen unterhalten. Als sie merken, dass sich der Erzähler für sie interessiert, erzählen sie ihm ihre Geschichte. Sie sind die auf die Sonne versetzten Nachkommen uralter, mythologischer Liebesbäume, deren Früchte nach Verzehr die seltsamsten Wirkungen haben können. Cyrano benutzt diesen Teil nicht nur für eine Parodie auf verschiedene von Ovid erzählte Mythen – er feiert hier auch ganz subtil die homosexuelle Liebe.
Der Ich-Erzähler wandert dann weiter und trifft nach diversen kleinen Abenteuern auf einen alten Mann, einen Menschen, der sich als der verstorbene Campanella entpuppt. Dieser wird für den Rest des Romans zu seinem Begleiter und Lehrer. Cyranos Campanella vertritt – historisch nicht ganz korrekt – in vielem die physikalischen Positionen von René Descartes, zu dem ihn zu führen er dem Ich-Erzähler auch verspricht. (Woraus die Literaturwissenschaft schließt, dass dieser Roman hier nach 1650, dem Todesjahr von Descartes entstanden sein muss.) Denn es gibt auf der Sonne eine Art Republik der toten Philosophen. Allerdings hindert das grundsätzlich positive Bild, das er von ihm zeichnet, den Autor nicht daran, die überspannten Ideen und Ansichten, die Campanella in seinem Sonnenstaat über eben diese Sonne äußerte, zu parodieren und ins Lächerliche zu ziehen. Cyrano gehört in vieler Hinsicht zu jenen, die auch die Ansicht von Freunden ins Lächerliche ziehen, wenn sie der Meinung sind, dass diese Ansichten ins Lächerliche gezogen gehören. Er gehört, wie eigentlich alle ganz großen Satiriker, letztendlich keinem Lager an außer dem eigenen, das dann nur aus ihm selber besteht.
Das Buch bricht ab, bevor Campanella und der Ich-Erzähler im Land der Philosophen ankommen, wo sie Descartes treffen wollen. Wie es weiter gegangen wäre in diesem Land, oder ob der Erzähler noch Wesen jener Rasse von Sonnenbewohnern antreffen sollte, der derjenige angehörte, den er auf dem Mond getroffen hatte, und der von sich behauptete, unter anderem einmal der Dämon des Sokrates gewesen zu sein (denn von diesen Wesen hat er im vollendeten Teil des Romans keines getroffen) – wir wissen es nicht. Gerüchten zu Folge soll Cyrano nach der Reise zur Sonne auch noch eine Reise zu den Sternen geplant haben. Davon existiert aber keine Spur.
Auch wenn der erste Teil, Die Reise zum Mond, witziger und satirischer war, tut es mir dennoch leid, dass Cyrano (warum auch immer) diesen zweiten Teil nicht beenden konnte. Und auf einen dritten Teil, in den Sternen, hätte ich mich auch gefreut. Denn auch Teil 2 hier ist noch voll übermütigen Witzes und wissenschaftlich-rationaler Ironie.
Gelesen in folgender Ausgabe:
Savinien Cyrano de Bergerac: Reise zum Mond und zur Sonne. Zwei Romane. Herausgegeben, übersetzt und mit einen Nachwort versehen von Wolfgang Tschöke. Frankfurt/M: Eichborn, 2004. [Vor mir liegt die zweite Auflage von 2005 – bereits mit dem Stempel Mängelexemplar versehen, will sagen: im Neuantiquariat verramscht. Schlecht für das Buch und den Verlag, gut für mich.]