Savinien Cyrano de Bergerac kennt man hierzulande – wenn überhaupt – als Erotiker und Raufbold aus diversen Filmen. Die wiederum basieren praktisch alle auf einem Theaterstück, das ein gewisser, ansonsten recht unbekannter Edmond Rostand 1897 geschrieben hat, also ein rundes Vierteljahrtausend nach Cyranos Tod und recht unbekümmert um die Tatsache, dass wir sehr wenig von Cyranos Leben wissen. Dabei gäbe es bei diesem Mann einiges zu entdecken. Zum Beispiel seine beiden Bücher L’Autre Monde ou Les États et Empires de la Lune und Les États et Empires du Soleil, beide übrigens erst postum veröffentlicht. Auf Deutsch ist Rostands Stück im Buchhandel in -zig Ausgaben erhältlich – diese beiden Romane gar nicht (mehr). Und das ist – mit Verlaub – ein Skandal.
Zugegeben: Diese Bücher heute zu lesen, verlangt einiges von uns ab. Cyrano hat in seine Reise zum Mond nicht nur Kritik an der katholischen Kirche eingebaut, sondern eine ganze Darstellung und Kritik der (zu seiner Zeit) modernen Astronomie und Physik.
Denn im Grunde genommen ist die Handlung dieses Romans nebensächlich. Dem namenlosen Ich-Erzähler gelingt es im zweiten Anlauf mit einem physikalischen Trick (der teils ernsthafte Physik ist, teils Flunkerei) den Mond zu erreichen. Dort stellt er fest, dass der Mond ebenso über intelligentes Leben verfügt wie die Erde. Mit dieser Spiegelung kann Cyrano sehr viel Kritik an kirchlichen Dogmen unterbringen, indem er entweder die Seleniten die gleichen Dogmen vertreten lässt und sie sich untereinander kritisieren oder der Ich-Erzähler sie kritisiert. Oder er führt irdische Lehrmeinungen ad absurdum, indem sie auf die Verhältnisse auf dem Mond projiziert. Zum Beispiel gehen die Mond-Menschen auf allen Vieren – was dem Erzähler Gelegenheit gibt, die theologische Begründung der Seleniten, warum dem so sein müsse, wider gibt. So zieht Cyrano die Begründungen der irdischen Theologen, warum der Mensch auf zwei Beinen laufen müsse, ins Lächerliche.
Es wird viel diskutiert in diesem Roman. Zwischen den Mondbewohnern und dem Erzähler, unter Mond-Menschen, zwischen dem Erzähler und einem Bewohner der Sonne, der sich ebenfalls gerade auf dem Mond aufhält. (Und der, nebenbei, von sich behauptet, der Dämon gewesen zu sein, der Sokrates geführt habe – denn die Menschen auf der Sonne können zwei- bis dreitausend Jahre alt werden.) So kann Cyrano das geozentrische Weltbild des Ptolemäus, das gerade im Begriff stand, vom heliozentrischen Modell abgelöst zu werden, ebendiesem gegenüber stellen. Dabei zeigt sich, dass der Autor die Theorien eines Kopernikus, eines Kepler, eines Galilei sehr gut kannte. (Er kennt und verurteilt indirekt auch Galileis Schicksal von Hand der Kirche.) Ja, Cyrano kennt (und verwirft) die Thesen von Tycho Brahe. In den Anmerkungen meiner Ausgabe wird immer wieder darauf verwiesen, dass eine Anregung zu solcher Lektüre wohl von Pierre Gassendi kam. Ein Trick Cyranos ist dabei, dass die Figur, die soeben noch die fortschrittlichste Theorie präsentiert hat, in ein paar Nachsätzen plötzlich in Formeln der Alchemie zurückfällt – den allwissenden Mann, auf den alle hören sollten, gibt es in diesem Roman nicht. Ähnliches gilt für die Darstellung der Physik. Cyrano kannte offenbar Pascals Beweis, dass es ein Vakuum in der Natur gibt und verwirft dementsprechend Decartes‘ Physik. Er neigt wie Gassendi zum Atomismus eines Epikur oder Lukrez. Anaxagoras wird positiv erwähnt; Aristoteles‘ Physik immer wieder in Teilen verworfen. Last but not least gibt der Umstand, dass mit dem Ich-Erzähler ein Lebewesen auf dem Mond gelandet ist, dem Autor auch jede Menge Gelegenheiten, über die Definition des Menschen diskutieren zu lassen, über die des Tiers, und ob und wer denn nun über welche Art von Seele verfüge. Und nicht immer wird dem irdischen Mann auch nur eine tierische Seele zugesprochen. Argumente gehen hin und her; und viele davon sind Parodien zeitgenössischer wissenschaftlicher oder theologischer Traktate – oder auch des Pentateuch.
Der Schluss des Romans wirkt dann recht zufällig, was Absicht ist. Der Ich-Erzähler, der schon länger versucht hat, den Mond wieder zu verlassen (ihm droht unterdessen der Tod, da man nicht so recht weiß, was mit diesem theologischen Skandal sonst anzufangen wäre), wird zufälligerweise beim Versuch, einen Mann zu retten, der durch atheistische Reden dem Teufel verfallen ist und den der Teufel dann auch stante pede abholt und durch den Kamin mit ihm abfährt, mit diesem Atheisten zusammen vom Mond gerissen, allerdings fällt er auf der Oberfläche der Erde nieder, während der Atheist offenbar in deren Zentrum mitgeschleppt wird, wo nach dem damaligen Glauben sich die Hölle befand. Am Ende findet sich der Ich-Erzähler in Italien unter Bauern wieder – einer der Eingänge zur Hölle scheint sich also in Italien zu befinden.
Fazit: Wer unter ‚Science Fiction‘ spannende Abenteuer im Weltraum versteht, oder auch nur die Schilderung einer unbestimmten Zukunft, wird von diesem Roman enttäuscht sein. Wer eine kritische Darstellung der Bedingungen der Naturwissenschaften in der Mitte des 17. Jahrhunderts sucht, muss sich diesen Roman zu Gemüte führen. Und wer sich ganz einfach darüber amüsieren will, wie ein Autor verschiedene Theorien – auch welche, denen er eigentlich zustimmt – ad absurdum führt, auch.
Gelesen in der meines Wissens letzten noch auf Deutsch erschienen Version, die ich seither auch antiquarisch nicht mehr gesehen habe:
Savinien Cyrano de Bergerac: Reise zum Mond und zur Sonne. Zwei Romane. Herausgegeben, übersetzt und mit einen Nachwort versehen von Wolfgang Tschöke. Frankfurt/M: Eichborn, 2004. [Vor mir liegt die zweite Auflage von 2005 – bereits mit dem Stempel Mängelexemplar versehen, will sagen: im Neuantiquariat verramscht. Schlecht für das Buch und den Verlag, gut für mich.]
PS. Der Sonnenroman wird bei Gelegenheit noch folgen.
2 Replies to “Savinien Cyrano de Bergerac: Die Reise zum Mond”