Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise

Von den drei berühmten Berichten über Reisen in Italien, die die Goethe-Zeit hervorgebracht hat, haben wir zwei bereits vorgestellt: schon vor längerer Zeit die Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788 von Karl Philipp Moritz und vor kurzem erst Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus. Es fehlt also nur noch der dritte, der berühmteste: Die Italienische Reise von Goethe selber. Das sei hiermit nachgeholt.

Wer allerdings die Italienische Reise als Reisebericht liest, wird über weite Strecken enttäuscht sein. Wir finden kaum Schilderungen von Land und Leuten, dafür sehr viel über Goethe selber. Das hängt mit der Entstehungsgeschichte zusammen und mit der Absicht, in welcher Goethe seine Italienische Reise veröffentlichte. 1816 nämlich trug die Veröffentlichung des ersten Teils nämlich noch den gleichen Zusatztitel wie seine Autobiografie Dichtung und Wahrheit: Aus meinem Leben. Die Italienische Reise sollte in der ursprünglichen Intention Goethes eine Art Fortsetzung von Dichtung und Wahrheit darstellen. Erst später hat er den Zusatztitel gestrichen. Was wir heute als Italienische Reise kennen, besteht aus drei Teilen, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind.

Wir haben oben schon gesagt, dass der ersten Teil 1816 erschien; 1815 machte sich Goethe an die Arbeit. Anders gesagt: Es waren rund 30 Jahre vergangen, seit sich am 3. September 1786 Goethe klammheimlich aus der Gesellschaft von Karlsbad entfernt hat und im Eiltempo (er spricht selber davon, dass seine Hinreise einer Flucht ähnelte) nach Italien reiste. Erst in Venedig hielt er sich länger auf, aber auch nicht zu lange, zu stark war sein Wunsch, Rom zu sehen. (Sicher war an diesem Drang, Rom zu sehen, auch Goethes Vater schuld, der seine Kinder immer wieder mit Erzählungen und Souvenirs aus seiner eigenen italienischen Reise ergötzte; aber weshalb dieser Drang gerade jetzt in dieser manischen Art und Weise umgesetzt wurde, können wir nicht erklären.) Zum Zeitpunkt des Abfassens seiner Italienischen Reise, 30 Jahre später also, hielt sich Goethe für den ersten Teil seiner Reise vor allem an das Tagebuch, dass der noch nicht 40-Jährige damals schrieb. Schrieb in der Absicht, es später einmal der Frau von Stein vorzulegen, als eine Art Entschuldigung und Erklärung für den Umstand, dass er sich von niemand – nicht in Karlsbad und nicht in Weimar und auch von ihr nicht – verabschiedet hatte, ja für lange Zeit sich auch nicht meldete, also zu Hause niemand wusste, was los war. Ein Jahr später erschien der zweite Teil der Reise, der den Ausflug nach Neapel und Sizilien, sowie einen zweiten Aufenthalt in Neapel zum Inhalt hatte. Der Goethe der Italienreise hatte sich unterdessen bei seinen Freunden gemeldet; ein Tagebuch musste also nicht mehr geführt werden. Statt auf so ein Tagebuch griff Goethe 30 Jahre später primär auf Briefe an seine Freunde zurück, die er aber – anders als das Tagebuch, das relativ unverändert publiziert wurde – zum Teil mit Zusätzen versah. Man spürt in diesem zweiten Teil schon, wie ihn die Querelen von Weimar langsam wieder in Besitz nehmen, auch wenn er Herder zum Beispiel ganz freundlich zum dritten Teil von dessen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit gratuliert. Andererseits aber wettert er schon wieder ganz böse über den Propheten von Zürich – also Lavater. Noch später sollte er sich daran machen, für Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach eine Villa in Rom anzumieten, auf dass diese bei ihrer geplanten Reise sofort eine Unterkunft hätte.) Es ist aber so, das es dieser mittlere Teil ist, der am meisten einer Reisebeschreibung ähnelt, am meisten mit Anekdoten über das Leben in Italien getrüffelt ist. Der dritte Teil der Italienischen Reise behandelt den zweiten römischen Aufenthalt und wurde von Goethe erst 1828 / 1829 verfasst. Noch einmal ändert der Stil: Goethe liefert nun eine Art monatlichen Resumés seiner Aktivitäten. Während also der erste Teil der Italienischen Reise praktisch ungefiltert die Freude und den Freiheitstaumel des wieder aufblühenden Mannes vor das Publikum stellt, wird nicht nur die zeitliche Distanz des Autoren-Ich zum ‘italienischen Ich’ in den folgenden Teilen immer größer, sondern auch die erzählerische. Es ist, wie der Herausgeber meiner Ausgabe, Ernst Beutler, in einem als Nachwort dienenden Essay schreibt, wie wenn wir in immer kühlere Räume treten.

Wenn es in diesem Werk nicht um Italien geht, worum geht es dann? Ganz einfach: Es geht vorwiegend um Goethe. Um den von seiner administrativen Tätigkeit in Weimar frustrierten Mann, der aus seinem Käfig ausbricht und noch einmal Freiheit und Unbeschwertheit erlebt. Um den als Dichter Verstummten, der in Rom wieder zum Schreiben findet – auf einer neuen Basis allerdings. War es vorher das Einzelne, Individuelle, das er darstellte, so geht sein Bestreben nun aufs Allgemeine. Vor allem bei seinem zweiten Rom-Aufenthalt brechen die Dämme: Er schreibt die Iphigenie völlig um, ändert und beendet seinen Tasso, Egmont und sogar der Faust werden vorgenommen, denn Goethe will nun Material für seine erste Werkausgabe liefern. Sogar ein Singspiel schreibt er und lässt es gleich in Rom von einem dorthin bestellten deutschen Musikmeister in Ton setzen. (Leider verstand Goethe sehr wenig von Musik; er sollte zeit seines Lebens nur einen beachtlichen Musiker erleben: Felix Mendelssohn-Bartholdy.) Es geht auch um den Maler und Zeichner Goethe. Zu jener Zeit hatte er mit dem Gedanken gespielt, auf Malerei umzusatteln. Rom und die deutsche Künstlerkolonie alldorten lehrten ihn, dass sein Talent dazu nicht ausreichte. Vielleicht, notiert Goethe resigniert, wenn er es von Anfang an hätte ausbilden lassen. Aber so … (Beutler merkt leise ironisch an, dass man den Zeichnungen, die Goethe in Rom anfertigte, sofort ansieht, bei welchem der Deutschen in Rom er gerade ein wenig Unterricht genommen hatte.) Als Bildhauer versucht sich Goethe gar nicht erst; er beschränkt sich darauf, die Statuen zu bewundern, die er – mit Winckelmann – für antik hält und die, wie wir heute wissen, ‘nur’ spätantik waren. Und natürlich bewundert er die Gemälde und Statuen eines Michelangelo, eines Raffael, eines da Vinci. Er gibt an, in Rom zu einem besseren Kunstverständnis gefunden zu haben. Darüber ließe sich trefflich streiten; der Mann, von dem er am meisten lernte, war bekanntlich Johann Heinrich Meyer. Der Schweizer, den er schon beim ersten Aufenthalt in Rom kennen gelernt hatte, war aber nun leider einmal ein bestenfalls drittklassiger Künstler und ein ebenso drittklassiger Kunstkritiker.

Wir sind in der Italienischen Reise aber auch Zeuge davon, wie der Naturwissenschaftler Goethe eine wichtige Entdeckung macht. Damit meine ich nicht, dass er zu verschiedenen Malen auf den Gipfel gerade aktiver Vulkane aufbricht, um dort in der Hitze und in den giftigen Gasen beinahe umzukommen. Das ist bloßer Aktivismus. Und ich meine auch nicht den Goethe, der Steine von überall her zusammensammelt. Auch das ist nur das Hobby eines Amateurs. Aber es ist auf dieser Reise, in Sizilien genau gesagt, wo Goethe seine Urpflanze findet. Nüchtern formuliert steckt dahinter die Entdeckung, dass alles, was eine Pflanze außer Wurzeln und Stängel fabriziert, nur Metamorphosen des Phänotyps ‘Blatt’ ist. Doch für Goethe hatte diese Entdeckung auch etwas Mystisch-Geheimnisvolles, und er glaubte, eine solche Urpflanze wirklich sehen zu können bzw. gesehen zu haben. Diese Metamorphose der Pflanze war, neben der Entdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochen, der grösste Beitrag Goethes an die Naturwissenschaft.

Auf seiner Rückreise ließ sich Goethe ein bisschen mehr Zeit für die italienischen Städte auf der Route zwischen Rom und Mailand. Aber davon erzählt die Italienische Reise nichts mehr. Ähnlich abrupt, wie er seinen ersten autobiografischen Versuch Dichtung und Wahrheit abgebrochen hatte, bricht er auch hier ab – mit seiner Abreise aus Rom und (bezeichnenderweise) einem Zitat aus den Tristien des Ovid, in denen dieser seinerseits seine Vertreibung aus dem Paradies Rom beklagt.

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