Ijon Tichy reitet wieder! Jedenfalls so ähnlich … Im Ernst: 25 Jahre nach den Sterntagebüchern von 1957 und 11 Jahre nach dem Futurologischen Kongreß von 1971 wird Lem 1982 seinen Weltraum-Münchhausen noch einmal als Helden eines Romans hervorholen. Es wird einer der letzten unter ‚Science Fiction‘ einzuordnen Romane Lems sein. Er soll lange daran gearbeitet haben, und ich kann mir vorstellen, dass er auch am Schluss nicht damit zufrieden war. Denn Lokaltermin weist als Roman schwerwiegende Mängel auf. Der Text ist für ein Werk der Fiktion viel zu desparat – und, offen gesagt, als theoretisches Werk auch.
Zusammenfassungen des Romans stellen üblicherweise Tichys erneute Reise nach Entia in den Mittelpunkt. Er war schon einmal dort, anlässlich der 14. Reise seiner Sterntagebücher. Damals nannte er den Planeten Enteropia und in der Zwischenzeit hat es sich herausgestellt, dass er gar nicht auf dem eigentlichen Planeten war, sondern nur auf einem (eventuell sogar aufblasbaren!) Mond, der den Bewohnern von Entia als riesiges Vergnügungszentrum dient. Pikiert, in seiner Ehre als Erstentdecker empfindlich getroffen, beschließt Tichy, den Planeten nochmals zu besuchen, um dieses Mal korrekte Informationen zur Erde zurück zu bringen. (Und ja: Das Wort Erstentdecker kommt immer wieder in diesem Zusammenhang vor, ohne dass je erklärt wurde, was ein ‚Zweit-‘ oder gar ein ‚Drittentdecker‘ sein könnte.) Eine solche Zusammenfassung hat aber nur einen kleinen Teil des ganzen Romans zum Inhalt – großzügig geschätzt das letzte Drittel.
Zunächst aber erzählt Lem jede Menge anderes. Zu Beginn des Romans treffen wir auf Tichy, wie er von einer Reise zurückkommt und sich einen ruhigen Ort sucht, an den er sich für einige Zeit zurückziehen könnte. Ruhig, sauber, friedlich. Österreich verwirft er, weil er dieses Land schon kennt. Er entscheidet sich für die Schweiz. Allerdings erweist sich Zürich, wo er sich zuerst aufhält, als keineswegs so ruhig wie gewünscht, auch der Traum von einem Ferienhaus in den Bergen hat seine Tücken. Da kommt es Tichy nur recht, dass der bekannte Schweizer Millionär Doktor Wilhelm Küßmich, seit Jahren ein Verehrer meiner Tätigkeit und ein eifriger Leser meiner Schriften, zum Zeichen seines Respekts und seiner Dankbarkeit [Tichy] ein Schloß übereignen möchte. Tichy stimmt blauäugig zu, nur um schon bald zu merken, dass er in einen kombinierten und komplizierten Lebensmittel- und Finanzskandal verwickelt worden ist – nicht nur verwickelt: Er soll, wenn es nach Küßmich und der Firma Nestlé geht, sogar der Hauptschuldige sein. Tichy findet zum Glück einen Anwalt, der ebenso raffiniert ist wie der der Gegenseite, aber der Prozess wird sich hinziehen.
Diese harsche Kritik an der Schweiz und an kapitalistischem Gebaren wird in den meisten mir bekannten Zusammenfassung verschwiegen – was auch damit zusammen hängen kann, dass dieser ‚Schweizer Teil‘ zwar die Hälfte des Romans einnimmt, in der zweiten Hälfte aber nur noch am Rand erwähnt wird. Wie der Prozess ausgeht, erfahren wir nie. Es erscheint jetzt nämlich ein zweiter Handlungsstrang. Auf einer Fahrt mit dem Zug nach Genf sieht Tichy in seinem Abteil zufälligerweise einen Mann, der sein, Tichys, Sterntagebuch liest und fleißig Notizen darin macht. Er stellt sich dem Fremden als der Autor des Buchs vor und erfährt von ihm dass jede Notiz eine Stelle betrifft, wo Tichy gegen Protokoll und Brauch der Erstentdeckung verstoßen hat. Tatsächlich gibt es nämlich ein Ministerium für Außerirdische Angelegenheiten, dem der Fremde angehört. Tichys Neugier ist geweckt und er will mehr erfahren. So erfährt er auch von seinem Fehler mit Entia. Dem Ministerium für Außerirdische Angelegenheiten ist ein Institut für Geschichtsmaschinen angeschlossen, wo man sich über den aktuellen Stand der Dinge – zumindest in einer Art Hochrechnung – auf fremden Planeten informieren kann. Zusätzlich erreicht es Tichy, dass er die ansonsten selbst den Mitarbeitern verschlossene Bibliothek des Ministeriums benützen darf. Er pumpt sich derart mit Informationen voll, dass er beinahe den Verstand verliert und zum Schluss beschließt, noch einmal nach Entia zu reisen.
Dieser Strang der Erzählung, der ‚Entia-Strang‘ – der Hauptstrang? – wird nun aber durch eine Erzählung der Reise nach Entia unterbrochen, die wider Erwarten mit Entia keinen Zusammenhang kennt. Tichy hat sich nämlich für die Reise Bänder mit den Stimmen und den Meinungen verschiedener bekannter und unbekannter Männer versorgt, damit er sich unterwegs mit ihnen unterhalten kann: Russell, Popper, Feyerabend, Einstein und Shakespeare sind die bekanntesten. Wie er unterwegs die Bänder startet, stellt sich zwar heraus, dass Einstein fehlt, aber die drei Philosophen sind schnell in eine erkenntnistheoretische Diskussion verwickelt. Finkelstein, Tichys Anwalt, den er ebenfalls als Kopie mitgenommen hat, wird die drei zwar darauf hinweisen, dass ihr Gezänk einem Nicht-Philosophen nichts bringt, aber sie zeigen wenig Einsicht. Shakespeare, um das Schlusswort gebeten, rezitiert einen Text, der eine Mischung aus seinen großen Monologen darstellt und überhaupt nichts mit der Diskussion zu tun hat. Hier bricht die Erzählung von der Reise ab; Tichy hat dann offenbar doch den induzierten Winterschlaf vorgezogen.
Erst im letzten Drittel des Romans sind wir wirklich auf dem Planeten. Dort gibt es unterdessen noch zwei Staaten. Einen relativ armen und unterentwickelten, in dem Personenkult herrscht und einen sehr reichen, dessen genaue Struktur nicht erörtert wird. Während der arme Staat relativ rasch abgehandelt wird (offenbar hielt es Lem schon für riskant genug, vom Personenkult zu berichten und von der Tatsache, dass die Regierenden in schönen Häusern mit schönen Gärten wohnen, während die übrige Bevölkerung zusammengepfercht in stinkenden Riesensauriern – Kurdel genannt – im Sumpf leben musste), verbringen wir im reichen Teil des Planeten mehr Zeit. Es gibt dort so genannte Gripser, eine Art Nanobots, deren einzige Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass keinem ‚Menschen‘ (eigentlich sind es ja vogelartige intelligente Wesen) ein Übel welcher Sorte auch immer zustößt. Mehr und mehr kommt Tichy, kommt Lem, von der eigentlichen Erzählung ab und beginnt, die philosophisch-ethischen Konsequenzen solcher Gripser zu diskutieren. Wer gibt ihnen welche Anweisungen? Ist es für den ‚Menschen‘ wirklich gut, dass ihm alles Übel vorenthalten wird? Etc. etc. Tichy, unterdessen auf einer Expedition mit ein paar Einheimischen selber von einem Riesensaurier verschluckt, wird des Nachdenkens und der Strapazen müde:
Das Schnarchen steigerte sich zu wildem Gurgeln und drang von allen Seiten auf mich ein. Meine Gefährten waren unschuldig, der Kurdel war bei der Verdauungsarbeit. Es geht ihm im Bauche rum, dachte ich und war beruhigt. Der Schlaf wollte dennoch nicht kommen. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, und wie die Perlen eines Rosenkranzes ließ ich alle früheren Reisen an mir vorüberziehen. So viele waren es schon gewesen. So manche hatte sich als Traum erwiesen. Ich erinnerte mich an das Erwachen nach dem Futurologischen Kongreß, und plötzlich kam mir der Gedanke, ich könnte ja auch jetzt nur träumen: Die Schlaflosigkeit setzt einem nirgends so nachdrücklich zu, als wenn man im Schlafe liegt, denn man kann ja nicht einschlafen, wenn man schon schläft. In solch einer Lage fällt es leichter, wach zu werden. Führe ich jetzt aus dem Schlaf, ersparte ich mir einen Haufen überflüssiger Strapazen. Das wäre wahrhaftig eine achtbare Überraschung. Ich sammelte also alle meine Kräfte für die geistige Auseinandersetzung mit den Banden, in die man vom Traum so fest geschlagen ist, ich wollte ihn zerreißen und von mir werfen wie ein finsteres Gespinst. Ich zwang mich zur äußersten Anstrengung, aber es half nichts. Ich wachte nicht auf. Es gab nur diese eine Wirklichkeit.
Auf dieser pessimistischen Note endet der eigentliche Roman. Wir erfahren nie, wie Tichy aus dem Kurdel gekommen ist, wie zurück zur Erde und wie der Prozess mit Küßmich und Nestlé endete. Es ist, als hätte nicht nur Tichy, sondern vor allem sein Schöpfer Lem genug gehabt. Umso seltsamer wirkt es, wenn der eigentliche Schluss des Textes gemacht wird von einem Anhang, der überschrieben ist mit Kleines Sachwörterbuch der losannischen und kurdländischen Umgangssprache sowie syntureller Begriffe (siehe: Syntur), wo also Lem noch einmal zurück greift auf einen Tichy als pseudo-gelehrten Münchhausen-Forschungsreisenden, wie wir ihn aus den Sterntagebüchern kennen. Das verstärkt den Eindruck eines seltsamen Zwitters von satirisch-komischem Roman und philosophischer Abhandlung, den dieses Buch vermittelt. Es hätte ihm wohl gut getan, wenn Lem diese beiden Textsorten auseinander gehalten hätte. Warum er es nicht tat? Es war eines seiner letzten belletristischen Werke – vielleicht liegt darin der Keim der Erklärung.