Hippolyte Taine gilt als der Vordenker des französischen Naturalismus. Dennoch habe ich hier kein literarisches, philosophisches oder literaturtheoretisches Werk von ihm ausgewählt sondern seine „Reisehefte“ aus den Jahren 1863-1865. Die sind nämlich (auch literarisch) durchaus etwas Besonderes und verdienen eine nähere Betrachtung. Hippolyte Taine war schon den Zeitgenossen auch als Verfasser von Reiseberichten bekannt.
Von 1863 bis 1865 war Taine Examinator der École militaire de Saint-Cyr (bei Paris), einer von Napoléon gegründeten höheren Schule zur Ausbildung des französischen Militärs. (Die Schule gibt es heute noch; sie hat für Frankreich den Ruf, den West Point für die USA hat.) Damals wie heute war das höhere Schulwesen in Frankreich sehr zentralisiert organisiert. Einmal jährlich wurden in den größeren Städten des Landes Eintrittsexamen durchgeführt, für die u.a. eben auch Taine zuständig war. So kam es, dass er in diesen Jahren viele Städte der französischen Provinz kennenlernte. (Und in Frankreich war damals ‚Provinz‘ – ist es heute noch – alles, was nicht Paris und dessen Banlieue ist.)
Bei jedem Aufenthalt notierte Taine in speziellen Notizheften, was ihm in der gerade besuchten Stadt am meisten aufgefallen war. Über die eigentlichen Examen verlor er in diesen Heften wenige bis gar keine Worte; höchstens, dass er schilderte, wie er in einer Pause in den Hof des Schulgebäudes getreten war, in dem die Examen stattfanden oder von der dienstlich motivierten Bekanntschaft mit lokalen Offizieren sprach.
Wahrscheinlich war geplant, aus diesen Notizen ein Buch zu erstellen, einen Reisebericht, wie er ihn bereits über seinen Aufenthalt in den Pyrenäen geschrieben hatte (erschienen 1855, 1858 und 1860) und gerade (wohl auch während seinen Reisen in der französischen Provinz) über seine Italien-Reise schrieb (erschienen dann 1866 – seine England-Reise hingegen schlug sich in zwei philosophiegeschichtlichen und einem literaturgeschichtlichen Buch nieder). Aus irgendwelchen Gründen kam es nie zum Buch über die französische Provinz. Die Notizhefte wurden erst postum 1897 veröffentlicht. Es zeigte sich, dass Taine seine Notizen praktisch druckreif niedergeschrieben hatte, und das das Manuskript, obwohl es keineswegs eine Druckvorlage sein sollte, nur wenige Korrekturen aufweist.
Das ist erstaunlich, denn wenn man den Text liest, ist man immer wieder fasziniert von der flüssigen, leichfüßigen Sprache, die er verwendet. Taines Landschaftsbeschreibungen zeigen das Auge eines Malers und sind durchaus realistisch oder eben naturalistisch gehalten. Er besuchte fleißig die lokalen Bibliotheken und Museen und schildert uns die dort angetroffenen Bilder und Plastiken. Er spaziert durch den alten Teil der Städte und schildert uns auch deren Architektur. Dass sich die armen Leute das Leben mit Cidre und auch stärkerem Alkohol schön trinken, notiert er ohne ihnen Vorwürfe zu machen. Dass er in der Provinz einen nördlich-niederländisch-deutschen Menschentyp zu erkennen glaubt und einen südlich-italienisch-maurischen, liegt in der Natur der Sache, da man zu der Zeit in Frankreich gerade beginnt, Darwin zu rezipieren. Und so ganz nebenbei sehen wir, wie schon in den 1860ern in Frankreich das Reisen mit der Eisenbahn etwas Selbstverständliches war – Hippolyte Taine erwähnt es immer mal wieder, ohne aber ein Aufsehen darum zu machen.
Über eines allerdings schimpft er konstant: über den Einfluss der katholischen Kirche in den Provinzstädten. Wenn es stimmt, was er sich notiert, gibt es offenbar in praktisch allen Städten Klöster, Mönche und Priester, die mit ihrem geschickten (weil geschulten) Palaver vor allem auf die jungen, gerade in der Pubertät steckenden Frauen so lange einreden, bis sich deren Einbildungskraft derart entzündet hat, dass sie sich nichts Schöneres für den Rest ihres Lebens vorstellen können als ein Leben als Braut Christi. Anders gesagt: Sie gehen ins Kloster – und mit ihnen auch ein oft nicht unbeträchtliches Erbe, das nun dem Kirchenschatz zugeschlagen werden kann, was Taine am meisten ärgert.
Trotz des skizzenhaften Charakters eine sehr interessante Lektüre. Meines Wissens gibt es leider keine deutsche Übersetzung, wie überhaupt dieser Autor als Ganzes im deutschen Sprachraum sträflich vernachlässigt wird. Wer’s auf Französisch lesen will, kann das am einfachsten über die bei Wikisource hinterlegte Vollversion: