Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland – Leben und Werk. Band 1: »Vom Seraph zum Sittenverderber«, 1733-1783

Portrait Christoph Martin Wieland gemalt von Georg Oswald May, 1799. Heute im Wieland-Museum in Biberach. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Auf diese Publikation hat mich kürzlich Metteur en lumière in seinem Kommentar zur Wieland-Biografie von Jan Philipp Reemtsma hingewiesen. Eines der Antiquariate meines Vertrauens hatte sie sogar im Angebot, also fix bestellt. Sie wurde auch sehr rasch geliefert. Und da ich schon seit langem keine Bücher mehr auf Vorrat kaufe (wie die Bücher-Hortenden zu sagen pflegen: „für später einmal“ – nur: jetzt ist für mich später …), habe ich relativ zügig mit der Lektüre begonnen. Insgesamt sind es 3 Bände, XXXII + 2168 Seiten (Achtung: Vor allem die Bände 1 und 2 habe ich im Internet auch häufig separat angeboten gesehen!). Ungeachtet der Tatsache, dass die drei Bände natürlich eng zusammen gehören, habe ich beschlossen, hier jeden Band separat vorzustellen – dies, weil einerseits Abwechslung auch das Lese-Leben süß macht und andererseits in einem Litteratur-Blog wie diesem hier Wieland gar nicht zu häufig erwähnt werden kann. Also Band 1 öffnen und – gleich eine satte Nase voll von dem (meiner Meinung nach etwas säuerlichen, aber durchaus angenehmen) Geruch nehmen, den dicke Bücher verströmen, die jahre- oder jahrzehntelang ungeöffnet unter Tausenden anderer dicker Bücher in einer Bibliothek standen. Dann aber: lesen.

Nun ist ‚Lesen‘ allerdings nicht ganz der richtige Ausdruck für das, was ich bei dieser Publikation mache. Denn trotz ihres Untertitels handelt es sich hier nicht um eine klassische Biografie. Es ist nämlich

[…] die vorliegende Arbeit gewissermaßen ein Versuch, die gesammelten »Positivismen« zur Lebensgeschichte eines Dichters auf neue Weise darzulegen. In dieser einen Darstellung stehen die chronologisch geordneten Begebenheiten aus dem Leben und der Werkstatt Wielands vereint mit den Meinungsäußerungen, wie sie hauptsächlich in den Berichten anderer, aber zum Teil auch von ihm selbst stammenden Quellen überliefert sind. Alle Einträge sind chronologisch nach Zeitpunkt oder Zeitspanne der Ereignisse verzeichnet. Die Datierungen, ob genau oder ungefähr, stehen am Rand der betreffenden Seite.

1, XIII

Eine Mischform von Selbstzeugnissen im Stil der verblichenen Rowohlt-Monografien also, den Literarischen Zuständen und Zeitgenossen eines Karl August Böttiger, Goethes Gesprächen – [der] Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seiner Umgebung des Flodoard von Biedermann und der die Werke und Briefe chronologisch aufführenden Bremer Ausgabe von Hölderlins Werken. Nur natürlich auf Wieland und nicht auf Goethe oder Hölderlin bezogen. Man kann so etwas als Nachschlagewerk verwenden, oder überfliegen und zwei, drei Stellen genauer lesen, auch mal einen bestimmten Zeitraum im Detail anschauen – aber von A bis Z liest man das kaum. Starnes verwendet in diesem Zusammenhang auch den Begriff ‚Tagebuch‘.

Der große Unterschied zur klassischen Biografie, nicht nur der von Reemtsma, ist dann zum einen die Datenmenge, zum andern die Tatsache, dass hier natürlich zum Teil disparate Aspekte aus Wielands Leben hintereinander stehen. Es fehlt die ordnende Stimme des historisch-biografischen Erzählers, der zum Beispiel Wielands Frauengeschichten zusammenfassen könnte, Wielands Karriere als Stadtschreiber in Biberach oder die Entstehung seiner literarischen Werke. Das ist ja der Grund, warum wir unser eigenes Leben und unsere eigene Zeit, die Gegenwart, als chaotisch, ja bedrohlich, empfinden: Wir stehen vor einem ungeordneten Chaos verschiedenster Tätigkeiten, die wir ausführen, und Dingen, die auf uns einstürzen. Die gute alte Zeit ist nur deshalb eine gute alte Zeit, weil wir und die Geschichtsschreiber:innen da eingreifen, ordnen und zusammenstellen, was (unser Meinung nach) zusammen gehört, und sich dann unserem Denken diese purgierte Form des Lebens als das ‚wirkliche‘ Leben präsentiert. Es stürzen auf uns, da bin ich ziemlich sicher, nicht mehr Informationen ein als auf den Steinzeitmenschen oder den Menschen der Goethe-Zeit. Man braucht nur ein Dutzend oder zwei Seiten hintereinander in Starnes’ Werk zu lesen und man staunt, wie viele Dinge Wieland gleichzeitig jonglieren musste und wie langwierig diese zum Teil sein konnten. Zum Beispiel, was ich selber auch völlig unterschätzt habe, sieht man auf diese Weise, wie lange sich Wieland mit den Querelen um seine Position als Stadtschreiber befassen musste, und wie belastend das für seinen konkreten Alltag war. Immer und immer wieder kommt die Frage seiner definitiven Anstellung und seines Salärs aufs Tapet. Ja, das Ganze wurde zur Schlichtung bis an den Kaiserhof in Wien gezogen. Und dabei war Wieland nur das Bauernopfer im Streit von Katholiken und Protestanten um die Stadtverwaltung. Als die Affäre endlich im Sinne Wielands gelöst wurde, hatte er schon längst alle Lust verloren und ließ sich nach Erfurt als Professor der Philosophie abberufen.

Diese Position war bekanntlich auf längere Zeit auch nicht haltbar, und Wieland kam als Prinzen-Erzieher nach Weimar. Wir erleben den Aufstieg Wielands, seine Auseinandersetzung mit den jungen Stürmern und Drängern (erst Goethe; dann, als dieser unterdessen in Weimar war, die Schweife dieses Kometen: Lenz, Klinger, Wagner; als letzten Schiller). Jedem stand er zunächst eher ablehnend gegenüber, fand aber zum Schluss doch bei jedem auch seine guten (literarischen) Seiten. Auch das ‚Daily Business‘ rund um die von ihm gegründete Zeitschrift, den Teutschen Merkur kann man hier verfolgen, wie er sich mit der schleppenden Auslieferung abplagt und sich mit den ursprünglichen Mit-Herausgebern, den Jacobi-Brüdern, auseinander lebt. Praktisch alle literarischen Größen Deutschlands lernte Wieland persönlich oder zumindest schriftlich kennen – die Berliner Aufklärer (Nicolai und Lessing), die ihm (vor allem Nicolai, Lessing änderte seine Meinung später) sehr kritisch gegenüberstanden, Klopstock, mit dem er es verdorben hatte, als er – junger Bodmer-Eleve in Zürich – sich mit ihm angelegt hatte.

Wieland war nicht nur einer der ersten Übersetzer des Shakespeare ins Deutsche – er sorgte auch dafür, dass ein Stück in seiner Übersetzung aufgeführt wurde, noch in Biberach. Er hat das erste deutsche Drama in Blankversen geschrieben (Lady Jane Grey, Uraufführung übrigens in Winterthur, wohin er seit seinem Aufenthalt bei Bodmer ebenfalls Kontakte hatte). Er hat die deutsche Oper in Theorie und Praxis auf die Beine gestellt – auch wenn die Aufführungen in Mannheim zum Desaster gerieten (was wohl eher am Komponisten lag), den ersten modernen Entwicklungsroman, die erste vorwiegend belletristische Zeitschrift – das alles in den ersten 50 Jahren seines Lebens, wie sie hier in Band 1 von Starnes’ Publikation zu finden ist.

Noch ein Wort zu Thomas C. Starnes. Er hat in New Orleans an der Universität Germanistik gelehrt, wird auch heute noch dort als Emeritus geführt. Lebensdaten konnte ich keine finden, die ich mit Sicherheit hätte zuordnen können – Thomas Starnes’ gibt es im Internet mehrere. Die Seite der Universität nennt völlig untypisch für die USA kaum Daten zu ihm. Sie führt ihn zwar als Ehrenbürger von Biberach auf – die Homepage von Biberach kennt ihn in ihrer Auflistung aber nicht.

Eine sehr interessante Publikation also, und müsste trotz der seither herausgekommenen Wieland-Biografie von Reemtsma im Grunde genommen für alle Wieland-Fans zum obligatorischen Bestandteil der Hausbibliothek erklärte werden.


Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland – Leben und Werk. Band 1: »Vom Seraph zum Sittenverderber«, 1733-1783. Sigmaringen: Jan Thorbecke, 1987. [Jan Thorbecke ist ein schwäbischer Verlag, der ursprünglich mit Regionalia bekannt wurde. Er gehört aktuell zur Patmos-Gruppe. Heute findet sich auf der Homepage des Verlags der Satz: Im Bereich Backen gilt Thorbecke als Trendverlag. Auch Verlage haben ihre Schicksale …]

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