Arno Schmidt: Das steinerne Herz

Porträt en face einer Frau mit Blumen im Haar, links und rechts ein gelber Rahmen. Dargestellt ist Prinzessin Sophie Dorothea von Ahlden (1666-1726). Schwarz-weißer Stich eines unbekannten zeitgenössischen Meisters. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Blödsinnige Einrichtung, dass da ständig sonne lackrote Schmiere in uns rum feistet ! N steinernes müßte man haben, wie beim Hauff.

S. 67 meiner Ausgabe

Mit diesem Zitat sind wir schon mitten im Roman, dessen guten und dessen weniger guten Seiten. Die lackrote Schmiere über die hier der Ich-Erzähler kurz vor dem Einschlafen noch meditiert, ist das menschliche Blut. Arno Schmidt reduziert also auf den ersten Blick aufs Physiologische, was bei Hauff metaphorisch gemeint war. Auf einen zweiten Blick, der aber erst am Ende des Romans aufgetan wird, zeigt sich auch bei Schmidt ein metaphorischer Sinn, indem hier schon der vergebene Versuch des Ich-Erzählers, gegen seine Gefühle, seine Liebe, anzukämpfen vorweg genommen wird.

Das Zitat gibt auch einen Blick auf den Ich-Erzähler als solchen. Er ist der Pessimist, der alles besser weiß und besser kann. Besser auch als die Natur (oder der liebe Gott, an den er aber nicht glaubt). Auf der Suche nach dem Nachlass des Hannover’schen Statistikers Jansen landet er in Ahlden, einem kleinen Kaff im heutigen Niedersachsen. Er quartiert sich als Untermieter beim Ehepaar Thumann ein, da es sich bei der Frau, einer geborenen Jansen, um die Enkelin des von ihm gesuchten Jansen handelt. Warum er genau er auf den Nachlass so versessen ist, erfahren wir nie.

Das Zitat erlaubt auch einen kleinen Blick auf die Sprache, die Schmidt in diesem Roman verwendet. Noch kennt er keine Etym-Theorie, aber schon jetzt verwendet er eine eigenwillige Orthographie, die umgangssprachliche Verschleifungen und Dialekte abbildet und die zu Schmidts Markenzeichen geworden ist. Nicht ganz zu Unrecht, seine Sprache ist wohl mit das Schönste und Interessanteste an diesem Roman.

Denn die Handlung als solche, der eigentliche Plot, ist, wie oft bei Schmidt, recht mager. Der Ich-Erzähler, Walter Eggers, kommt, wie gesagt, als Untermieter zum Ehepaar Thumann in dieses Kaff am Rand der Heide. Er und die Frau beginnen ein Verhältnis. Den Mann, von Beruf Fernfahrer, stört das nicht groß. Er hat selber eine junge Geliebte, die er regelmäßig auf seinen Fahrten nach Berlin-Ost besucht. Die wird dann mit einem Trick in den Westen geholt (wir schreiben gemäß Untertitel das Jahr 1954) und die vier leben fürderhin zusammen in ihrem kleinen Häuschen – Walter und Frau Jansen im oberen Stock, der Fernfahrer und seine Geliebte im Erdgeschoss. That’s it.

Im Grunde genommen geschieht ja auch in Schmidts Opus magnum, ZETTEL’S TRAUM, nichts: Ein Ehepaar mit gerade geschlechtsreif gewordener Tochter besucht ein befreundetes Ehepaar, das in der Heide wohnt. Man geht zusammen spazieren, man isst und trinkt, die Besucher übernachten und gehen am nächsten Tag wieder nach Hause. Arno Schmidts literarische Kunst beruht auf der von ihm verwendeten Sprache und der Form. In ZETTEL’S TRAUM entsteht die Spannung für die Lesenden durch die Verteilung der mageren Handlung und der Gedanken der Protagonisten auf drei nebeneinander gesetzte Spalten; hier ist es der Umstand, dass jedes der drei Kapitel aus unzähligen kleinen Abschnitten besteht, jeder davon mit die ersten paar Worte kursiv gesetzt. Die Abschnitte erzählen die Geschichte zwar fortlaufend, lassen aber immer mal wieder eine kleinere oder grössere Lücke im Ablauf – was gemäss Arno Schmidt eben auch die Art widerspiegelt, wie das menschliche Gedächtnis funtkioniert, das immer nur Ausschnitte aus der Vergangenheit behält. Was dazwischen liegt, müssen wir Lesenden selber ergänzen. Die Form und nicht der Inhalt machen Arno Schmidts Kunst aus. Im Grunde genommen ist er, der (auch in diesem Roman hier!) immer und immer wieder über die Lyriker lästert, genau das: ein verkappter Lyriker, ein Sprachartist.

Man hebt Das steinerne Herz von Schmidt oft auch deswegen hervor, weil dieser Roman einer der ersten war, der damals beide deutschen Staaten schilderte – und an beiden kein gutes Haar ließ. Das mag sein, ist aber heute wohl nur noch literaturhistorisch interessant.

Kommen wir noch einmal zum einleitenden Zitat zurück. Es zeigt nämlich, zumindest ein bisschen, auch etwas anderes auf – etwas, das mich unterm Lesen zusehends mehr störte, ja ärgerte. Vieles an Walter Eggers erinnert an den Autor bzw. dessen Biografie. Die Manie, sich Bücher und Informationen beschaffen zu müssen für ein – hier nicht weiter spezifiziertes – Opus Magnum, lebte Schmidt in Zusammenhang mit Fouqué aus. In einem gewissen Moment studieren Eggers und seine Geliebte die Prospekte eines Fertighaus-Lieferanten, um sich dann der eine für diese, die andere für jene Nummer zu entscheiden. Auch das hat das Ehepaar Schmidt einige Zeit gemacht, und ich bin jetzt nur zu faul nachzuschlagen, ob die vom fiktiven Pärchen hier gewählten Nummern und Haustypen eventuell sogar identisch sind mit denen, die sich das echte Ehepaar ausgesucht hatte. (Aber ich nehme an, jemand hat das schon nachgeprüft – die Rückführung von Fiktion aufs Real-Biografische war ja nicht nur eine Manie Schmidts sondern ist bis heute auch eine der Schmidt-Forschung.)

Andere Dinge hat Schmidt ganz einfach bei anderen Autoren abgeguckt. Im einführenden Zitat scheint er den Titel seines Romans auf Wilhelm Hauff zurückzuführen. Wie oft bei Schmidt, ist der Zusammenhang aber nicht ganz klar. Hauffs Erzählung (aus dem Wirtshaus im Spessart) trägt den Titel Das kalte Herz; Das steinerne Herz wiederum ist eine Erzählung eines anderen Romantikers, E. T. A. Hoffmanns. Zitiert Schmidt aus dem Gedächtnis und es ist einfach Nachlässigkeit von ihm, der sonst so vieles nachprüfte, genau hier nicht nachgeprüft zu haben? Ist es seine Liebe fürs Abgelegene (und Hauff wäre ja abgelegener als Hoffmann), die auch macht, dass in Schmidts Werk immer wieder die Namen halb-verschollener Autoren der Vergangenheit auftauchen? Will er damit nur eine weitere Nebelpetarde zünden, denn die Handlung hat weder mit Schmidt, noch mit Hoffmann etwas zu tun? Die Schlusspointe mit den aufgefundenen Goldmünzen hat er einem anderen Trivialroman entnommen. Solche Petarden zündet Schmidt immer wieder. Die Ehebruchsgeschichte der Prinzessin von Ahlden und das Schloss, das sie bewohnte, werden zwar im Schlusskapitel recht ausführlich vorgestellt, sind aber irrelevant für den Fortschritt der Handlung. Das Viereck, das Schmidt hier bildet, erinnert an Goethes Wahlverwandtschaften, nur dass ihm Schmidt ein Happy Ending gibt – was wiederum den Pessimismus des Walter Eggers ad absurdum führt und gleichzeitig eine Spitze gegen den eher ungeliebten Klassiker Goethe ist. Und da gibt es haufenweise Anspielungen auf andere Autoren, oft verschollene, oder heute nur noch halb bekannte. (Die Entstehungszeit des Romans ist auch die der Schmidt’schen Funkessays – und so mancher Name von dort kehrt hier wieder.) Typischerweise nehmen von den Weimarer Klassikern Herder und Wieland einen höher geschätzten Platz ein als die ansonsten auch in den 1950ern noch ubiquitären Goethe und Schiller. Und auch Triviales, wie zum Beispiel Verne oder May, wird nicht verschmäht. Selbst den Trick mit der gefälschten Todesurkunde, die Thumanns Geliebte aus dem Osten holt, entnimmt Eggers der Literatur, wie er gleich selber zugibt. Dasselbe Vorgehen wie er wählte auch Siebenkäs im gleichnamigen Roman von Jean Paul, um abtauchen zu können. (Und es ist hier, liebe Wikipedia, wo Jean Paul in Schmidts Roman eine Rolle spielt – beim Diebstahl der zweiten Auflage von Heinrich Ringklibs Statistische Uebersicht der Eintheilung des Königreichs Hannover nach Verwaltungs- und Gerichtsbezirken (auch so ein entlegenes Buch) wendet Eggers ein Vorgehen an, für das er kein Vorbild angibt, das aber sicher existiert, bei der Exaktheit, mit der Schmidt es schildert.)

Und nun bin ich beim Punkt, wo der Ich-Erzähler des Romans, Walter Eggers, am meisten an Schmidt erinnert. Eggers ist, wie der reale Schmidt, nicht nur ein Bücherwurm, er ist auch ein unsäglicher Besserwisser. Natürlich kann und weiß er alles – es ist kein Zufall, wenn er einmal im Lauf des Romans mit Charley angeredet wird, wie weiland Old Shatterhand. Er kennt den Wert der alten Bücher, die er bei Thumanns auf dem Speicher findet und hilft dabei, diese so teuer wie möglich zu verkaufen. Er kann professionelle Kartografen belehren, wie sie die Kartenausschnitte besser wählen könnten, um ein Blatt zu sparen. Er kann einen semi-professionellen Numismatiker beim Verkauf der aufgefundenen Goldmünzen über die Ohren hauen. Es ging mir bei Eggers wie bei Old Shatterhand: Irgendwann begann der Typ zu nerven.

Zum Schluss noch dieses: Wikipedia spricht aktuell davon, dass die erste Auflage an politisch, religiös und sexuell „anstößigen“ Stellen entschärft worden sei, und diese Stellen sowie weitere Zusätze des Autors erst 30 Jahre später im Rahmen der Bargfelder Ausgabe hinzugefügt wurden. Meine Ausgabe ist die Zürcher Kassette von 1985, und ich weiß nicht, welcher Textversion sie entspricht. Was aber so oder so auch hier auffällt, weil es immer wieder auftaucht, ist die intensive Beschäftigung des Walter Eggers mit seiner und anderer Leute Verdauung, bzw. deren Endprodukten. Farbe und Beschaffenheit des Stuhlgangs, Geräusche und Gerüche von Darmwinden werden ein ums andere Mal vorgeführt. (Wir finden solche Beschreibungen auch noch in ZETTEL’S TRAUM, aber das Ganze wird dort doch ein wenig zurückgenommen.) Ich bin nicht prüde, aber wenn – wie hier – solche Schilderungen um ihrer selbst willen geschehen (denn auf die Handlung haben sie keinen Einfluss, während die Bettszenen zwischen Eggers und Frau Thumann durchaus dazu gehören), ist das im Grunde genommen tatsächlich eine Art von Pornografie. Was nicht heißt, dass ich nun für deren „Entschärfung“ votiere – ich finde es überflüssig und es nervt. Aber es ist auch entlarvend für den Autor. Ebenso nervt der ständig sexualisierte Blick des Ich-Erzählers auf die Frauen. Selbst bei Volkspolizistinnen der DDR taxiert er deren sekundäre Geschlechtsmerkmale. Und den vollen, fast nackten Busen, den die Prinzessin von Ahlden auf dem Gemälde zeigt, das es auch auf den Umschlag meiner Ausgabe geschafft hat (und damit hier als ‚Titelbild‘ abgebildet ist) – auch den kommentiert Eggers in Gedanken genüsslich. Zeitbedingt oder Charakter-Beschreibung? Ich weiß nicht … Da hilft es auch nichts mehr, wenn Schmidt zum Schluss des Romans die beiden Frauen eine sexuelle Befreiung ihres Geschlechts einfordern lässt. (Das wäre ja ungefähr der Punkt an der Emanzipation, von dem die Männer am meisten profitieren.)

Ich bin, wie man sieht und wie mit zunehmendem Alter immer mehr bei Schmidt, gespalten. Der Roman wurde auf Mastodon von Leuten, auf deren Urteil ich großen Wert lege, als Schmidts bester gelobt. Persönlich ziehe ich immer noch Pocahontas (das ich aber wieder einmal lesen sollte, vielleicht enttäuscht es mich heute auch), Die Gelehrtenrepublik oder KAFF vor – vielleicht halt doch auch, weil – zumindest in den letzten beiden – ein gewisser Ansatz zu einer eigentlichen Handlung zu finden ist.


Ich lese Schmidt in folgender Ausgabe:

Arno Schmidt: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahr 1954. Zürich: Haffmanns, 1985. [Gestalterisch, ‚buchtechnisch‘, sind die so genannten Zürcher Kassetten meiner Meinung nach bis heute im Schmidt-Universum unerreicht.]

2 Replies to “Arno Schmidt: Das steinerne Herz”

  1. Unterdessen hat Giesbert Damaschke verdankenswerterweise nachgeschaut: Die Zürcher Kassette bringt den „entschärften“ Text, was all die Anstößigkeiten betrifft. Vielen Dank für die Mühe, die Du dir genommen hast, Giesbert!

  2. Wenn wir schon bei Titelanspielungen sind, so fällt mir neben Hauff viel prägnanter „Das versteinerte Gebet“ ein, jene Fremdbearbeitung des 4. Bandes „Im Reiche des silbernen Löwen“ von Karl May, die zur Handlungszeit 1954 gerade in erster Auflage erschienen war und die Schmidt heftigst kritisierte, bis seine Meckereien in eine sogenannte ‚Rückbearbeitung‘ durch Hans Wollschläger mündeten.

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