Harry Graf Kessler kam 1868 in Paris zur Welt. Kesslers Familie rechnete sich zurück auf den St. Galler Reformator Johannes Kessler (Ahenarius, 1512-1547), aber ihren Einfluss und ihre guten Beziehungen bis hinauf zu Kaiser Wilhelm I. verdankte sie den Bankgeschäften Adolf Wilhelm Kesslers, des Vaters von Harry. Der Vater war es auch, der 1879 nobilitiert und zwei Jahre später in den Grafenstand erhoben wurde. Harrys Mutter war ihrerseits die Tochter eines Offiziers der Royal Navy, der zum Befehlshaber der anglo-indischen Flotte in Bombay aufgestiegen war. Der kleine Harry wuchs zunächst in Paris auf, war also mehr oder weniger dreisprachig.
Von seinem 12. Lebensjahr an führte er Tagebuch. Dieses Tagebuch gilt heute als eines der wichtigen Zeitzeugnisse der wilhelminischen Epoche ebenso wie der Weimarer Republik. Auf Grund seiner Herkunft kannte Harry jeden, jede und alles. Nicht ohne Berechtigung würde man ihn später einen „Menschensammler“ nennen. Wie andere Briefmarken sammelten und in ihr Album einklebten, sammelte er Bekanntschaften und vermerkte sie in seinem Tagebuch mit durchaus treffenden Kommentaren. Dieses Tagebuch sollte später die Basis seiner Memoiren bilden, es ist aber ein literarisches Zeugnis von eigenem Rang.
Dennoch ist es keineswegs ohne kleine und große Rätsel, und eines davon steht schon gleich am Anfang: Wir wissen nicht, warum er plötzlich Tagebuch führte, und dazu noch auf Englisch. Vermutlich hat ihn sein Vater dazu aufgefordert, als feststand, dass Harry das Pariser Halbinternat, in dem er bisher zur Schule gegangen war, verlassen sollte und ein Internat in Ascot beziehen. Das englisch geführte Tagebuch sollte wohl Harrys Englisch-Kompetenzen stärken. (Tatsächlich muss zu jenem Zeitpunkt Französisch die primäre Sprache Harrys gewesen sein; sein englischer Satzbau ist mit einigen Gallizismen durchsetzt. Das sollte natürlich dann in Ascot bessern.) Wir wissen auch nicht, warum Harry Kessler das Tagebuch weiter führte, nachdem das vermutete ursprüngliche Motiv weggefallen war – und das 57 Jahre lang bis zu seinem Tod. Die Herausgeber des Tagebuchs haben ausgerechnet, dass er ungefähr jeden zweiten Tag einen Eintrag gemacht haben muss – natürlich nicht regelmäßig, in Zeiten von Krankheiten u.ä. schrieb er nichts. Wir wissen nicht, warum er die ersten 11 Jahre, also bis zu seinem 23. Lebensjahr, sein Tagebuch auf Englisch führte – und wir wissen nicht, warum er dann auf Deutsch umstellte. Die ersten beiden Tagebücher wurden noch in französische Schulhefte geschrieben, dann ließ er sich spezielle Hefte dafür binden.
Inhaltlich kann man von einem Zwölfjährigen natürlich noch nicht viel erwarten, auch wenn der später zu einem „Menschensammler“ heranwachsen sollte. Meist sind es wenig interessante Anekdoten aus der Schule. Einzig bemerkenswert in seiner Zeit in Ascot ist sein Selbstmordversuch dort. Er war eigentlich nicht ungern von Paris weggegangen, vor allem das Essen dort hatte er als miserabel in Erinnerung und die ganze Schule als schmutzig. Zu Beginn hatte er aber dann Schwierigkeiten sich ans englische System und den englischen Charakter zu gewöhnen. Er fand keine Freunde, und als er dachte, einen gefunden zu haben, musste er erleben, dass dieser dann im Ernstfall doch nicht zu ihm hielt. Dafür schloss er Freundschaft mit jenem Knaben, der ihn rechtzeitig gefunden und ihm das Leben gerettet hatte. Später würde er Ascot vor allem für eines loben: Nie, meinte er, nie sei dort gelogen worden. Ansonsten ist während Harrys Schulzeit eine gewisse Regelmäßigkeit im Jahresablauf zu bemerken: Die Weihnachtsferien verbringt er mit der Familie in Paris, die Sommerferien mit der Mutter und den Schwestern meistens in der Schweiz (Rigi-Kaltbad, später St. Moritz). Viel mehr weiß Harry aber nicht zu berichten.
Wir wissen nicht (und Harry scheint sich selber darüber keine Gedanken gemacht zu haben), warum ihn sein Vater nach zwei Jahren aus dem Internat in Ascot nahm und in die Hamburger Gelehrtenschule des Johanneums steckte, ein noch heute existierendes Gymnasium. (Übrigens war das Verhältnis Harrys zu seinem Vater trotz solcher recht willkürlich getroffener Entscheidungen ausgezeichnet, ebenso wie jenes zur Mutter und zu seinen beiden Schwestern. Die eine, unterdessen reich in Frankreich verheiratet, sollte Harry an seinem Lebensende über die Runden helfen, als der sein Vermögen in Deutschland an die Nazis verloren hatte.) Wir wissen einzig, dass schon Vater Kessler das Johanneum besucht hatte. Jedenfalls machte Harry – als einer der besten – dort sein Abitur.
Er ging dann zunächst nach Bonn (nein, wir wissen nicht, warum gerade Bonn), um ein Studium der Jurisprudenz zu beginnen (nein, wir kennen das Motiv für diese Studienwahl nicht; auch belegte Harry offenbar noch andere Fächer). In seinem Tagebuch vermerkt er regelmäßiges Kneipen. Er hatte sich nämlich, ohne je Mitglied zu werden, einer Burschenschaft angeschlossen und wurde offenbar als voll berechtigter und verpflichteter Mit-Trinker zu deren rituellen Besäufnissen eingeladen. Das war auch noch der Fall in Leipzig, wohin er nach zwei Jahren Bonn wechselte. Und nein: Wir kennen auch hier das Motiv des Wechsels nicht. Wir wissen hier aber besser als in Bonn, dass Harry außer der Jurisprudenz noch weitere Fächer besuchte, so zum Beispiel Psychologie bei Wilhelm Wundt. (Wir erfahren letztlich aber nur, dass er dessen Psychologie für die bessere hielt als diejenige von William James.)
Wenn wir allerdings die ersten 11 Jahre der Tagebücher im Ganzen betrachten, können wir durchaus eine Entwicklung des jungen Harry feststellen. Beginnend in Hamburg, wo Harry nicht mehr den ganzen Tag in der Schule steckte, sondern bei Verwandten wohnte, sehen wir, wie sich seine Interessen langsam über Dinge jenseits der rein schulischen zu erstrecken begann. Nein, keine Frauengeschichten (oder Männergeschichten, quant à ça – man munkelt, es sei Harry Graf Kessler eher dem eigenen Geschlecht zugetan gewesen). Aber der junge Mann beginnt – zunächst zaghaft – seine Lektüre zu notieren. „Zaghaft“ weil zunächst nur der Name eines Autors da steht, ein paar Tage später ein anderer Autor. Aus diesen Einträgen können wir aber immerhin schon herauslesen, dass sein primäres Interesse deutsche, englische und französische Romanciers waren. Später wird dann der eine oder andere Titel genannt – es bleibt aber bei Romanen. Erst ganz zum Schluss dieser 11 Jahre findet sich dann die eine oder andere zusätzliche Bemerkung oder ein schüchterner Vergleich zweier Autoren. Ebenfalls wird sich das Interesse Harry an bildender oder darstellender Kunst erst nach seinem 20. Lebensjahr entfalten, als er beginnt, Kunstausstellungen zu besuchen. Vom „Menschensammler“ kann aber noch keine Rede sein. Immerhin steht am Ende dieser 11 Jahre Kesslers erst große Reise – nach Italien. Was wir hier haben, können wir höchstens „A Portrait of the Collector as a Young Man“ nennen.
Zum 150. Geburtstag von Harry Graf Kessler wurden seine Tagebücher, sorgfältig editiert und annotiert, in einer umfangreichen Print-Edition herausgegeben. Hier reden wir vom ersten Band dieser Ausgabe:
Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Erster Band. 1880-1891. Herausgegeben von Roland M. Kanzelak unter Mitarbeit von Lucie Holzwarth. (= Band 50.1 der Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft. Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. 1880-1937. Herausgegeben von Roland M. Kanzelak und Ulrich Ott. Unter Beratung von Hans-Ulrich Simon, Werner Volke (†) und Bernhard Zeller (†). Stuttgart: Cotta, 2018.
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