Johann Gottfried Herder: Briefe. Erster Band. April 1763-April 1771

Auf zwei Zeilen, etwas rechts von der Mitte, dunkelbraun auf beige, stehen die Worte: "JOHANN GOTTFRIED // HERDER". - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Seit langem schon, spätestens aber seit der großen, kritischen Ausgabe von dessen Werken durch Suphan (ab 1877), so halten die Verantwortlichen der Ausgabe von Herders Briefen fest, sei eine Ausgabe seiner Briefe ein Desiderat der Herder-Forschung gewesen. Ihm nachgekommen sind Wilhelm Dobbek (†) und Günter Arnold als Herausgeber des ersten Bands, dann aber erst 1977. Zumindest ist dies das Erscheinungsjahr des vorliegenden ersten Bandes der Briefe Herders, die als Ganzes herausgegeben wurden von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (vulgo: Goethe- und Schiller-Archiv). Der Band erschien bei Hermann Böhlaus Nachfolger DDR. In gewisser Hinsicht kam diese Ausgabe also viel zu spät, in anderer aber viel zu früh. Ersteres wussten die Verantwortlichen, letzteres konnten sie natürlich nicht ahnen.

Zu früh: Es waren natürlich seit Suphans Werkausgabe schon Briefe von Herder in Auswahlausgaben oder sogar Einzeldrucken erschienen. Die waren nicht immer gleich sorgfältig mit dem Original verglichen worden – ja, einige Ausgaben aus dem 19. Jahrhunderts griffen sogar absichtlich in den Text ein, dort nämlich, wo sie das Gefühl für Anstand und Sitte verletzt sahen. (Man schrieb in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch viel unbefangener über gewisse Körperteile wie zum Beispiel den weiblichen Busen – und das gilt für Herder genau so wie für seine Angebetete, dann Verlobte und schließlich Gattin, Caroline.) Dennoch waren diese Auswahlausgaben in vielen Fällen ein Glück für die Germanistik: Vieles von dem, was sich dort findet, gilt heute als verloren. Und, wie in so vielen anderen Fällen, ist auch daran der Zweite Weltkrieg schuld. Bzw. der Umstand, dass vor allem Berliner Bibliotheken und Museen ihren Bestand gegen Kriegsende noch in aller Eile „auslagerten“, um sie zu schützen. Ob nun diese Objekte am Ort ihrer Auslagerung zerstört wurden, oder ob man in der Eile vergaß (vielleicht sogar absichtlich nicht niederschrieb), wohin man das Zeug gebracht hatte – vieles, nicht nur Herders Briefe, ist jedenfalls bis heute verschollen.

Zu spät: Andere Bestände existierten zwar vielleicht noch, aber – in Westdeutschland. Was für die damalige DDR-Germanistik gleichbedeutend war mit einer Aufbewahrung auf dem Mond – unzugänglich für eine kritische Bearbeitung.

Der erste im vorliegenden Band 1 abgedruckte Brief ist an den Grafen Dohna-Schlodien gerichtet, in Königsberg geschrieben und stammt von Anfang April 1763. Obwohl Herder damals noch keine 20 Jahre alt war, hatte er sein Studium der Theologie in Königsberg bereits abgeschlossen (unter anderem hatte er aber auch bei Kant hospitiert). Er hatte sich mit Hamann befreundet und war auf der Suche nach einem seiner Ausbildung entsprechenden Job. Noch im Laufe des durch den vorliegenden Band abgedeckten Zeitraums wurde er in eine Freimaurer-Loge aufgenommen, was allerdings – ein paar kryptische Bemerkungen ausgenommen, kaum Spuren in seinen Briefen hinterließ. (Ich bitte übrigens darum, ein für alle Mal bei solchen Aussagen in Gedanken hinzuzufügen: So weit Briefe überliefert sind.)

Es darf deshalb auch nicht verwundern, wenn Hamann einer der wichtigsten Korrespondenten Herders in dieser Zeit ist. Mit ihm diskutiert Herder Fragen der Ästhetik, dank der Auseinandersetzung mit ihm und der daraus resultierenden (gegenseitigen?) Befruchtung sollte Herder binnen kurzer Zeit zu einem der führenden Literaturkritiker und -theoretiker Deutschlands werden. Die Freundschaft mit Hamann war auch tatsächlich eine der wenigen, die das ganze Leben (hier: Hamanns) hindurch anhielt.

Im Laufe des ersten Bands wird sich Herder auch noch mit Johann Heinrich Merck befreunden, der in den gleichen Kreisen verkehrte wie Herders Angebetete Caroline Flachsland. Eine Zeitlang war diese Freundschaft so eng, dass Herder sogar Teile seiner Briefe an Mercks Frau Françoise richtete (die er dann allerdings konsequent Francisque nennt – ein Hinweis darauf, dass man Mercks Frau im Freundeskreis mit „Franziska“ anredete?).

Nicht alle Briefe sind von gleichem Interesse heute. Den ersten zum Beispiel, an den Grafen Dohna-Schlodien, können wir gleich wieder vergessen. Neben den Briefen an Hamann sind philosophisch gesehen, vor allem die wenigen Briefe an Moses Mendelssohn von Interesse. In einem versucht Herder, sich mit Mendelssohn in der Leib-Seele-Frage zu einigen und bringt darin die interessante Aussage, dass seiner Meinung nach die Seele, wenn sie tatsächlich ohne Körper wäre, sich sofort einen bauen würde – was meiner Meinung nach ein Echo ist auch der französischen Aufklärung, die die englischen Sensualisten in dieser Richtung ergänzte. Ein anderes Mal schreibt Herder an Mendelssohn, nachdem Lavater gerade ein Buch gelesen hatte mit vorgeblichen Beweisen dafür, dass das Christentum die einzige gültige Religion sei, und daraufhin Mendelssohn öffentlich und recht unverschämt aufgefordert hatte, anzugeben, warum er den christlichen Glauben nicht annehme, bzw. die Beweisgründe für den christlichen Glauben, die seiner (Lavaters) Meinung nach geliefert worden waren, zu entkräften. Ein heißer Boden für den (in Berlin offiziell ja nur geduldeten) Juden Mendelssohn. Herder rät ihm brieflich, sich nicht auf Lavaters Fragen einzulassen sondern die Gründe zu erklären, warum er (Mendelssohn) Jude bleibe. Ich weiß nicht, ob es gerade Herders Ratschlag war, der ihn dazu führte – aber so ähnlich hat Mendelssohn dann ja auch geantwortet.

Herders Briefe an Kant oder an Lessing sind voller Verehrung, bringen aber wenig Inhaltliches. Wenig Inhaltliches finden wir auch in den Briefen an Christoph Friedrich Nicolai, an dessen aufklärerischer Zeitschrift Herder eine Zeitlang mitschreibt. Die Briefe an seinen Freund, Verleger und Freimaurer-Bruder Hartknoch beschäftigen sich von einem gewissen Moment an fast ausschließlich mit den Fragmenten, gemeint sind die im Unter-Untertitel als Fragmente bezeichneten Miszellanien mit dem Titel Ueber die neuere Deutsche Litteratur, die 1767 bei Hartknoch in Riga erscheinen und in denen sich Herder definitiv als einer der wichtigen Literaturkritiker der Zeit etabliert.

Ich habe oben diverse Male das Wort ‚Aufklärung‘ in Zusammenhang mit Herder verwendet. Aufklärer war der ganz junge Herder nämlich noch – mit Leib und Seele. Als er sich auf seiner Reise in Paris aufhält, berichtet er seinen deutschen Korrespondenzpartnern genau, mit welchen französischen Philosophen er sich dort trifft – es sind vor allem die so genannten ‚Enzyklopädisten‘, während bei den Berichten über seinem Aufenthalt in Straßburg kein einziges Mal der Name Goethes fällt oder Jung-Stillings. Die Zusammenarbeit und Freundschaft mit Goethe, von der in der deutschen Literaturgeschichte so großes Aufheben gemacht wird – Herder scheint zu jener Zeit noch nicht begriffen zu haben, was er da in Gang setzen half. (Allerdings müssen wir auch bedenken, dass Herders Briefe an Goethe aus der damaligen Zeit wohl alle einem der von Johann Wolfgang schon fast regelmäßig durchgeführten Autodafés zum Opfer gefallen sind.)

Last but not least sind hier viele Briefe Herders an Caroline zu finden. Nebst der sowieso immer rührenden Art, mitzulesen, wie sich hier zwei, einander zunächst sorgfältig abtastend, ihrer gegenseitigen Liebe versichern, sind auch die literaturgeschichtliche Assoziationen Herders nicht uninteressant. Zuerst stilisiert er sich zu Petrarca (und Caroline entsprechend zu Laura), dann wird er kühner und greift zur bukolischen Liebeslyrik im Stile Gessners; Ossian (den er zu dieser Zeit offenbar noch für echt hält) wird in einem nächsten Schritt genommen, bis er schließlich mit den Oden Klopstocks in der eigenen Zeit landet. Es ist schade, figurieren in dieser Ausgabe nur die Briefe von Herder, ich hätte hier gern auch die Antworten an ihn gelesen.

Zusammenfassend: Es ist sehr interessant, dem jungen (und eindeutig frühreifen) Herder zuzuschauen, wie er seinen Weg sucht – beruflich, aber vor allem auch intellektuell, in der Welt der Literatur. Er war, das kann man schon hier sehen, nicht der Mann für eigene literarische Produktion, aber er war ein scharfer Analytiker des Bestehenden. (Und, auch das kann man aus diesen Briefen schon entnehmen: Er war ein Mann, der austeilen konnte. Aber nicht einstecken.)


Johann Gottfried Herder: Briefe. Erster Band. April 1763-April 1771. 5300 Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger DDR, ursprünglich 1977, vor mir liegt der fotomechanische Nachdruck von 1984.

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