Fabian Bernhardt: Rache

Schwarz auf rot der Kopf eines Mannes. Wahrscheinlich ein unscharf reproduziertes Gemälde eines antiken Helden, der gegen Schlangen oder eine Hydra kämpft. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Bernhardt (Jahrgang 1982) hat Philosophie, Ethnologie sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin studiert, wo er meines Wissens seither als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich »Affective Societies« angestellt ist (was immer ich mir unter diesem Begriff vorstellen soll). Wenn ich mir seine Publikationsliste ansehe, hat ihn das Thema ‚Rache‘ schon länger beschäftigt – eine Beschäftigung, die in das vorliegende, 2021 in Berlin bei Mathes & Seitz veröffentlichte und mit dem Untertitel Über einen blinden Fleck der Moderne versehene Buch von 414 Seiten mündete.

Es ist gegliedert in drei Teile plus Exposition und Epilog. Der erste Teil versucht, den Stellenwert der Rache in der Moderne zu definieren. Als Moderne betrachtet er in etwa die Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute. Seine These (und der Grund, warum er das Buch geschrieben hat) ist es, dass die Moderne einen falschen Ansicht von Rache hat. ‚Rache‘ sei sehr negativ besetzt und werde meist mit ‚Blutrache‘ gleich gesetzt, die wiederum bei uns als brutales und sinnloses gegenseitiges Meucheln verfeindeter Clans aufgefasst werde. (Wenn ich hier und im Folgenden ‚wir‘ schreibe, oder ‚uns‘, ist damit immer die mitteleuropäische Welt des späten 20. und des 21. Jahrhunderts gemeint, inklusive der englischsprachigen Länder in Europa und Nordamerika. Über Australien und Neuseeland erlaube ich mir keine Meinung; dort sollte eigentlich durch engeren Kontakt mit Indigenen eine differenziertere Ansicht herrschen. Im Übrigen scheint mir Bernhardt implizit dieselbe Definition zu verwenden.) Typischerweise wird dieses unkontrollierte Abschlachten im Namen einer Familienehre gern und regelmäßig „weniger zivilisierten“ Gesellschaften zugeschrieben: im elisabethanischen England zum Beispiel dem noch als mittelalterlich empfundenen äußersten Osten Dänemarks (Hamlet!) oder südeuropäischen Ländern wie Spanien und Italien. Dieser These nun, oder diesem Aberglauben, will Bernhardt an den Kragen gehen. Heute sind es Araber bzw. Muslime, denen wir solche Taten zuordnen – nie aber wir selber.

Zunächst hält Bernhardt fest, dass in unserem Denken diese Definition wilder Gesellschaften (anders formuliert: des Naturzustandes) ihre Quelle in der entsprechenden Darstellung durch Thomas Hobbes in dessen Leviathan findet. Dort nämlich ist es erst die starke und unveränderliche Form des durch freiwilligen Zusammenschluss gebildeten Staates (des Leviathan), der die Menschheit davor bewahrt, sich ständig gegenseitig niederzumetzeln. Daran konnte für Bernhardt auch die völlig anderen Definition des Naturzustandes bei Rousseau nichts ändern. Also gilt es, weg von der Theorie zu kommen und hin zu gehen zur Praxis – sprich zur ethnologischen Feldforschung. Dafür ordnet er zunächst einmal den Begriff ‚Rache‘ einem weiteren Bedeutungsfeld zu, bei welchem auch ‚Strafe‘ und ‚Vergeltung‘ berücksichtigt werden. Im Folgenden stützt sich Bernhardt dann vor allem auf die Forschungsergebnisse der französischen Ethnologie der 1920er und 1930er. (So, wie er sich auch in den philosophischen Teilen – Kant, Nietzsche, Wittgenstein und eben Hobbes ausgenommen – vor allem auf die französischen Strukturalisten stützt.) Da wird der Begriff der ‚Gabe‘ wichtig. Auch genealogische Gesellschaften (wie Bernhardt alle auf Familie, Clan und ähnlichen Strukturen fußenden Formen menschlichen Zusammenlebens nennt), selbst wenn sie ansonsten keine Form von Warenverkehr oder Volkswirtschaft kennen, verwenden beim Verkehr mit benachbarten Gesellschaften eine Form gegenseitigen Beschenkens. Hier nun fügt sich auch das System der (Blut-)Rache ein. Wenn ein Mitglied von Clan A ein Mitglied von Clan B tötet oder verletzt, greifen (je nach Gegend andere) spezifische Regeln der Kompensation. Es kann nun tatsächlich sein, dass einer vom Clan B einen vom Clan A töten darf, aber es darf dann eben nur einer sein, und das muss entweder der Mörder selber sein oder eine Person von in etwa gleichem Rang in Clan A. Es wird nirgendwo in der Welt einfach ‚wild‘(!) darauf los gemordet. In vielen Fällen sehen die Umgangsformen der Clans aber auch vor, dass die Kompensation anders erfolgt: durch Blutgeld oder auch, indem der Mörder von Clan A nach Clan B transferiert wird, wo er nun die Stellung des von ihm Ermordeten einzunehmen hat. Das alttestamentarische, in unseren Ohren so brutal klingende „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ stellt genau so eine Kompensationsregel dar. Und bis heute ist in vielen Ländern, die sich als ‚zivilisiert‘ betrachten, für Mörder die Todesstrafe vorgesehen – was auch nur eine anders reglementierte Blutrache darstellt. (Der Unterschied zwischen unserem Justiz-System und dem Vorgehen der genealogischen Gesellschaften beschäftigt Bernhardt übrigens über weite Strecken von Teil 2 des Buchs.)

Der dritte Teil untersucht dann die Rache vor allem im literarischen Kontext. Kleists Kohlhaas wird erwähnt, auch Melvilles Moby-Dick, aber es geht Bernhardt im Folgenden vor allem darum, zu zeigen, dass Rache, vor allem Blutrache, ihr Gesicht im Lauf der Zeit gewandelt hat. Und zwar meint er tatsächlich das Gesicht. Bernhardts These im dritten Teil seines Buchs lautet nämlich, dass die Rache im Lauf der Zeit mehr und mehr anonym ausgeführt wird. Er stellt dafür zwei Eckpunkte auf: Achill in der Ilias, der den Tod seines Freundes Patroklos ganz offen an Hektor rächt, ist der eine. Hier ist der Rächende noch allen bekannt. Am anderen Ende sieht Bernhardt dann Batman. Batman heißt mit bürgerlichem Namen Bruce Wayne, aber das weiß praktisch niemand. Bruce wurde zu Batman, um die Ermordung seiner Eltern zu rächen. Wobei er dann – wie Bernhardt feststellen muss – in keiner Geschichte je die Mörder seiner Eltern stellt. Batmans Rache generalisiert sich sowohl im praktisch kompletten Anonyminat wie in der verallgemeinerten Verbrecherbekämpfung statt der speziellen Rache. Das steht für Bernhardt auch für die Entwicklung unserer Gesellschaft. Im Anschluss an die Eckpunkte setzt der Autor noch zwei Übergangsformen der Rache. Da ist zunächst noch einmal Homer: Odysseus, der sich an den Freiern rächt. Zunächst tritt er auf Ithaka verkleidet auf, also anonym, gibt dann aber nach relativ kurzer Zeit im entscheidenden Racheakt seine Verstellung auf. Im 19. Jahrhundert findet Bernhardt dann die Übergangsform, die sich Batman annähert: den Grafen von Monte Cristo. Auch dieser rächt persönliche Unbill. Er bleibt aber viel länger als Odysseus anonym, erst zum Schluss und nur bei wenigen Freunden lüftet er seine Maske. Diese ‚Literaturgeschichte der Rache‘ ist auf den ersten Blick recht interessant; allerdings ist mit nur vier Beispielen das Material, auf dem sie beruht, doch recht dünn und ich vermute, dass weitere literaturarchäologische ‚Grabungen‘ ein anderes Bild der Rache in der Literatur aufzeigen würden.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Buch zwar in seinen Teilen weitestegehend gut gemacht und recherchiert ist. Aber die drei Teile hängen nicht so recht zusammen. Die eher rechtsphilosophische Untersuchung von Teil 1 weist gerade noch so einen Zusammenhaut auf mit der ethnologischen und kulturgeschichtlichen Untersuchung von Teil 2, wird aber schon im juristischen Teil praktisch aus den Augen verloren und nicht mehr aufgenommen. Teil 3 ist dann im Grunde genommen eine literaturwissenschaftliche (komparatistisch-motivgeschichtliche) Spezialarbeit, die mit den ersten beiden Teilen nur wenig gemein hat. Noch ein bisschen mehr Arbeit daran hätte dem Buch gut getan, auch wenn es dann vielleicht doppelt so dick geworden wäre, weil einige Löcher hätten gefüllt werden müssen. Auch glaube ich nicht, dass – von Trivialliteratur und gewissen Formen von Hollywood-Filmen abgesehen – sehr viele Leute bei uns wirklich daran glauben, dass (Blut-)Rache ein derart unkontrolliertes Phänomen ist, wie es Bernhardt hinstellt. Obwohl … wenn ich mir gewisse aktuelle Präsidentschafts-Kandidaten und deren Rhetorik so anhöre in den USA …

PS. Ich bin damals zu der Zeit auf das Buch aufmerksam geworden, als ich gerade The Selfish Gene von Richard Dawkins gelesen habe. Auf Dawkins’ evolutionstheoretische Überlegungen, das Überleben genetischer Gesellschaften betreffend, geht Bernhardt aber nirgends ein, was nun wohl auch wieder damit zusammenhängt, dass er mit seiner generellen Ausrichtung auf die französische Philosophie auch deren Abstützung auf der französische ethnologische Forschung übernimmt; hätte er sich auf anglophone Philosophie gestützt, wären ihm die englischsprachigen Naturwissenschaften nicht entgangen, vermute ich. Ein einziges Mal erwähnt er, ganz am Rand, das für Dawkins zentrale Motiv des ‚tit for tat‘ – als spieltheoretisches Modell. Bernhardts Theorie, dass Rache eigentlich nur bedeutet, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, hätte vielleicht noch an Fahrt aufgenommen, wenn er die aktuellen gentechnischen und evolutionstheoretischen Erkenntnisse mit berücksichtigt hätte.

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