Johann Gottfried Herder: Briefe. Vierter Band. Oktober 1776-August 1783

Auf zwei Zeilen, etwas rechts von der Mitte, dunkelbraun auf beige, stehen die Worte: "JOHANN GOTTFRIED // HERDER". - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Weimar. Das bedeutet erst einmal: endlich weg von Bückeburg. Hier nun, in Weimar, würde Herder, von ein paar Reisen abgesehen, aber den Rest seines Lebens verbringen. Ob er es, als er umzog, schon so geplant hatte? Seine Briefe (und hier bitte ich, immer hinzu zu denken: seine erhaltenen Briefe) äußern sich nicht dazu. Zwar gab es zu Beginn seines Aufenthalts durchaus Grund zu Beschwerden: Da waren die zwei Pfarrer in Weimar, die sich nicht seiner Oberhoheit als Superintendent unterstellt fühlten, sondern behaupteten, direkt und einzig dem Herzog persönlich verantwortlich zu sein. Und da war die Stadt Weimar, die ihm allerhand Steine zwischen die Füße warf. Doch das konnte – zum Teil offenbar mit Goethes Hilfe – alles geordnet werden und im Lauf der Jahre, die der vorliegende vierte Band der Herder’schen Briefe abdeckt, werden seine Klagen vor allem die monatlichen Abrechnungen betreffen, die er dem Herzog schuldete.

Der Umzug nach Weimar bedeutete auch einen Einschnitt im Leben des Intellektuellen Herder. Seine publizistische Tätigkeit profitiert davon, dass er nun sowohl die herzogliche Bibliothek in Weimar konsultieren kann wie die Universitätsbibliothek von Jena.

Auch auf der persönlichen Ebene erfährt Herders Leben einige Veränderungen. Und damit meine ich nicht, dass ihm im vorliegenden Zeitraum noch ein Sohn und eine Tochter geboren werden. Sondern dass ein signifikanter ‚Personalwechsel‘ stattfindet in den Reihen seiner Freunde. Bereits früher verschwunden ist Merck, der nur noch in zwei oder drei bösartigen Bemerkungen gegenüber Hamann erscheint. Über Nicolai wird nun auch nur noch in Briefen an Dritte recht negativ geschrieben. Lenz, an den er im Oktober 1776 noch einen Brief geschickt hat, verschwindet im Folgenden spurlos. Lavater hat sich erlaubt, in seiner Physiognomik eine Silhouette von Herders Kopf mit einigen nicht so positiven Charakterzügen zu bedenken – Herders Klage darüber bei Lavater ist der letzte Brief an diesen Adressaten, den wir im vorliegenden Zeitraum finden. Lessing, mit dem in der hier abgebildeten Zeit ein nicht uninteressanter Briefwechsel in Gang gekommen war, stirbt für Herder völlig unerwartet. Mit Mendelssohn, den er sozusagen als Ersatz ausersehen hatte, kommt kein richtiger Briefwechsel zustande.

Dafür formt Herder aber auch neue Freundschaften. Als erstes muss wohl der Weimarische Kammerherr Karl Ludwig von Knebel genannt werden. Im Laufe der 1780er bildet sich eine Bekanntschaft, dann Freundschaft mit dem Schweizer Historiker Johannes (später: von) Müller. Mit dessen jüngerem Bruder Johann Georg ist Herder sogar schon früher in Kontakt.

Das übrige Weimarer Umfeld: Bertuch, mit dem Herder es momentan recht gut kann. Herders Verhältnis zu Wieland erinnert mich an ein Zusammenleben von Hund und Katze im selben Haushalt – man akzeptiert sich, man toleriert sich, aber man ist sich gegenseitig nicht grün. Offizielle Schreiben an den Herzog Karl August, semi-offizielle an seine Mutter Anna Amalia (an deren Journal von Tiefurt Herder aber ebenso partizipiert wie an Wielands Teutschem Merkur), freundschaftlicher seine Briefe an die Herzogin Luise Auguste, bei deren Kindbetten seine Frau Caroline jeweils assistiert. Wir finden hier bereits eine Parteinahme, die Herder im Lauf der Zeit ins Weimarer Abseits stellen sollte.

Mehr und mehr verstärkt sich auch das nachgerade symbiontische Verhältnis der beiden Eheleute. Amtliche Briefe ausgenommen, werden viele Briefe von Johann Gottfried begonnen, von Caroline beendet, von Caroline begonnen, von Johann Gottlieb beendet und des öfteren schreibt Caroline auch ganz ‚offiziell‘ im Namen ihres Mannes, wenn dieser amtlich oder durch Krankheit verhindert ist.

Last but not least das literarische Leben Herders. Er tritt nun definitiv aus seiner Sturm und Drang-Phase über in die klassische, zunächst mit der Arbeit an seinem Essay Vom Geist der Ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben, und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes, der vielleicht sogar die erste Anregung darstellt für Goethes spätere Beschäftigung mit der orientalischen Dichtung – eine Beschäftigung, aus der bekanntlich Der West-östliche Divan hervor gehen wird. Am Ende des vorliegenden Bandes ist Herder, gemäß Carolines Aussagen, mit der nunmehr klassischen Ausgestaltung seiner Geschichtsphilosophie beschäftigt, den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Daneben, wie er Hamann mitteilt, kaut er an der Kritik der reinen Vernunft. Es spricht für Herder, dass er sich selbst seinem besten Freund gegenüber mit jeder Äußerung zu diesem Werk zurückhält und offenbar warten will damit, bis er sich wirklich fertig durchgekaut hat.

Es ist meines Dafürhaltens sehr spannend, an Hand seiner Briefe Herders Übergang vom unzufriedenen Stürmer und Dränger zu einem wenigstens manchmal und halbwegs zufriedenen Klassiker zu verfolgen und ich freue mich schon auf den nächsten Band.

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