Denis Diderot: Die geschwätzigen Kleinode [Les Bijoux indiscrets]

(Wie) Gehen Aufklärung und Erotik zusammen? Diderot hat diese Frage in seinem Erstlings-Roman ausgelotet, und ich finde seinen Lösungsvorschlag so schlecht nicht.

Die geschwätzigen Kleinode sind jene Teile der weiblichen Anatomie, die dem Geschlechtsakt dienen. Geschwätzig werden sie in diesem Roman, weil der Protagonist, ein Sultan namens Mangogul, Herrscher über das Reich Congo in Afrika, eines Tages vom Schutzgeist seiner Väter und seiner selbst einen Zauberring wünscht und erhält, der, wenn er auf die betreffende Frau gerichtet ist, dazu führt, dass deren Geschlechtsteil auf eigene Rechnung zu schwatzen beginnt. Er hat diesen Zauberring bei seinem Schutzgeist bestellt, weil ihn seine Favoritin, Mirzosa, auf diese Idee brachte. Die Geschlechtsteile können nicht lügen, und so manche gegen außen ehrbare Frau wird durch des Sultans Ring bloß gestellt. (Allerdings müssen wir festhalten, dass diese Bloßstellung allenfalls eine kurzfristige ist; die adlige Gesellschaft des Reichs Congo erwartet nachgerade, dass eine Frau Liebhaber – in der Mehrzahl! – habe, und dass der rechtmäßige Gatte tue, als ob er von nichts wisse. Und das Bürgertum ist um kein Haar besser.)

Dies also der erotische Teil. Diderot war nicht der erste, der solche Romane schrieb, gerade nicht in Frankreich. Was diesen Roman aber von anderen, zeitgleichen unterscheidet, ist sein aufklärerischer Teil. Dieser aufklärerische Teil zeigt sich gleich in doppelter Weise. Da ist zuerst die Tatsache, dass die Protagonisten des Romans natürlich nicht in Congo leben, bzw. dessen Hauptstadt Banza, sondern dass diese Namen nur Decknamen sind für Frankreich und Paris respektive. Damit wird auch klar, dass der Sultan nur im Roman Mangogul heisst, in Tat und Wahrheit aber der Herrscher der Franzosen zu Diderots Zeit gemeint ist, Louis XV. (Bzw., wo noch von seinem Vater die Rede ist, unter dessen Herrschaft das Reich Congo seine goldene Zeit erlebt haben soll, Louis XIV.) Auch die Favoritin lässt sich so entschlüsseln und viele der führenden Beamten des Reichs. Dass diese allesamt nicht die hellsten sind und ihre Ämter durch Bestechung und Korruption erhalten haben und nicht durch wahres Verdienst, ist der erste aufklärerisch-satirische Strang des Romans. Einige Nebenfiguren sind sogar gar nicht erst verschlüsselt worden, so durchsichtig wollte Diderot offenbar seine Geschichte gehalten haben.

Diderot hat noch einen zweiten, ebenfalls satirisch-aufklärerischen ‚Handlungsstrang‘ eingefügt. Immer wieder nämlich kühlt er die Hitze der Erotik, verlässt die erotische Sphäre der Erzählung, um Träume und ähnliches zu referieren, die den Protagonisten angeblich untergekommen sind. Diese Träume sind völlig unerotisch. Da träumt z.B. Mangogul, dass er sich in luftiger Höhe in einer Stadt aufhalte, die auf schwankenden Stelzen aufgebaut wurde. Die Bewohner dieser Stadt, lauter Männer, laufen praktisch nackt durch die Gegend, nur ein kleines Stoff-Fetzchen irgendwo am Körper bedeckt sie weniger als unzureichend. Er sieht einen Mann, der noch halbwegs bedeckt ist und fragt ihn, wo er denn gelandet sei. Der Fremde, der sich als Platon entpuppt, antwortet, er sei im Reich der Philosophie angekommen, wo die Errichter von Systemen die Herrschaft übernommen hätten, weshalb die Stadt nun auf schwankenden Stelzen stehe. Die Stoff-Fetzchen aber seien Reste sokratischen Denkens, die sie unter sich verteilt hätten, um ihre Blöße zu decken. Da taucht in der Ferne ein kleines Kind auf, das auf die Stadt zu marschiert. Unter seinem Marsch wird es immer größer, bis es zuletzt als Riese vor der Stadt der System-Bildner steht und die ganzen Aufbauten zertrümmert. Es ist die Erfahrung, die so handelt und sie trägt die Insignien Newtons, Galileis und Halleys. Andere Träume rühmen indirekt die alten Dichter und machen sich über die Literaturkritiker und über die Philologen lustig, die – jede Gruppe auf ihre Weise – an den großen Werken der Antike herumkritteln und sie verbessern zu können meinen.

(Das Vorwort meiner Ausgabe legt im Übrigen großen Wert auf die poetologischen Aspekte von Diderots Romanen im Allgemeinen, von diesem hier im Besonderen. Und auf deren Rezeption in der deutschen Klassik (bzw. Vor-Klassik: Lessing!) und Romantik und sieht hier die im Roman satirisch abgehandelte Querelle des anciens et des modernes auch als Streit nicht nur zwischen der vorklassischen und der klassischen Literatur zunächst in Frankreich, dann in Deutschland (Lessing!), sondern auch als Streit zwischen der deutschen und der französischen Rezeption Diderots im Allgemeinen. Einiges davon kann man meiner Meinung nach durchaus so betrachten, so darstellen. Wenn er jedoch diesen Streit bis hin zu Karl Marx zieht, denke ich, dass sich der Herausgeber Martin Fontius etwas gar weit zum Fenster hinauslehnt. (In Anbetracht der Tatsache, dass das Vorwort von 1977 stammt, einer Zeit also, als auch im Westen Deutschlands marxistisch angehauchte Interpretationen gang und gäbe waren, allerdings nicht zu verwundern.))

Der Roman fristet unter Diderots Romanen ein Mauerblümchen-Dasein. Das finde ich schade. Er ist sehr amüsant, selbst wenn man die Anspielungen auf die französischen Verhältnisse unter den beiden Ludwigs nicht entziffern kann oder will (hier helfen aber in meiner Ausgabe die Anmerkungen!). Der Roman ist in vieler Hinsicht immer noch aktuell: Gewisse satirisch überzogene Dinge finden sich auch ein Vierteljahrtausend nach Diderot immer noch in der gleichen Weise in allen Staaten. Und die Themen Sex, Ehe und Treue sind auch heute noch Dynamit für jede Konversation.


Denis Diderot: Das erzählerische Werk in vier Bänden. O.O.: Aufbau-Verlag, 1995

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