Montesquieu habe – so will es der Volksmund – in seinem Werk Vom Geist der Gesetze die moderne Staatstheorie ins Leben gerufen. Er habe nämlich – so immer noch der Volksmund – darin die bis heute als klassisch und richtig geltende gegenseitige Austarierung der drei Instanzen definiert, die den Staat lenken: die so genannte Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Selbst eine kursorische Lektüre einer Auswahlausgabe macht einem aber rasch klar, dass es so einfach nicht ist – und sei es nur schon deswegen, weil Montesquieu an diesem seinem Buch rund 20 Jahre lang geschrieben hat. In dieser Zeit haben sich seine Ansichten zumindest teilweise ebenso geändert, wie die Begrifflichkeiten, mit denen er die Phänomene bezeichnet.
Wohl finden wir von Anfang an ein Plädoyer für die Gewaltenteilung. Aber es geht dem Autor dabei primär um die strikte Trennung von Legislative und Exekutive. Wo das nicht gegeben ist, spricht er von einem despotischen Staat, worunter er ebenso Diktaturen durch Usurpatoren versteht, wie den absolutistischen Staat Frankreichs. Exekutive und Judikative hingegen sieht Montesquieu zumindest in den Anfangskapiteln noch als Teile derselben Gewalt. Die notwendige Austarierung der Gewalten sieht er an einem ganz anderen Ort. Ihm schwebt als idealer Staat so etwas vor wie England zu seiner Zeit, freilich idealisiert und verbessert. In England ist es nicht das Gleichgewicht der drei Gewalten, wie wir es heute verstehen, das er bewundert, sondern der Umstand, dass die Legislative zweigeteilt ist – ein demokratisch gewähltes Abgeordnetenhaus und ein nur der Aristokratie durch Erbschaft zugängliches Oberhaus. Alleine schon durch ein Veto-Recht des Oberhauses, meint er, könne verhindert werden, dass der Pöbel an die Macht komme. Und davor hatte der Baron wohl mindestens so sehr Angst wie vor einem despotischen Staat. Wenn er sie noch erlebt hätte, hätte er sich wohl durch die Ereignisse in Frankreich bestätigt gesehen, wo die Französische Revolution bewusst auf die Zweiteilung der Legislative verzichtete, um eine ungeteilte Volksstimme vorweisen zu können. (In den USA hingegen gab es von Anfang an ein funktionierende Gewaltenteilung in Montesquieus Sinn – obwohl dort weder ein Monarch noch eine Aristokratie existierten!) Es gibt für Montesquieu nur zwei Formen von Staaten: moderate, in denen Exekutive und Legislative getrennt sind, und despotische, in denen dies eben nicht der Fall ist. Die oben angesprochene Regierung des Pöbels ist für Montesquieu Anarchie und keine Staatsform mehr.
Daneben ist es Montesquieu wichtig, festzuhalten, dass es nicht einen idealen Staat gibt. Je nach äußeren Umständen wird die eine oder die andere Staatsform in der einen oder anderen Modifikation zur Anwendung kommen (müssen). Dabei spielen bereits existierende Traditionen eine ebenso große Rolle für ihn, wie zum Beispiel das Klima, in dem ein Volk lebt, seine ökonomischen Umstände etc. Dieses Ganze nannte er esprit général. Herder sollte aus Montesquieus esprit général den Volksgeist machen, der sich dann bei ihm weniger in den Staatsformen widerspiegelte, sondern in poetischen Formen, und der wiederum nicht nur in der deutschen Romantik weiter spukte, sondern auch bei Hegels Weltgeist. Zusammengefasst meint Montesquieu:
Mehrere Dinge regieren die Menschen: Klima, Religion, Gesetze, Staatsmaximen, Beispiele aus der Geschichte, Sitten, Lebensstil. Aus dem bildet sich als ihr Ergebnis ein Gemeingeist.
Wir dürfen dabei Montesquieu nicht falsch verstehen: Die Relation zum Beispiel von heißem Klima und schlafferen Menschen ist nicht eine von Ursache und Wirkung. Montesquieu stellt Bezüge her. Ihn hier anders zu verstehen (und das ist oft genug vorgekommen!), heißt, den Unterschied zwischen Korrelation und kausaler Beziehung einer Statistik nicht zu kennen – denn etwas anderes als Korrelationen bringt Montesquieu nicht vor, auch wenn er nirgends mit Zahlen jongliert. Und da die oben genannten sieben Dinge einander immer gegenseitig beeinflussen, wird es auch schwierig, monokausale Beziehungen aufzustellen. Wenn Luther eine Staatskirche aufbaute mit ähnlichen Hierarchien, wie sie die katholische Kirche aufwies, so ist dies dem Geschmack und den Wünschen der deutschen Landesherren angepasst; wenn Calvin darauf verzichtete, dann, weil die kleinen Stadtstaaten der Schweiz solchen Hierarchien misstrauten – theologische Gründe gab es gemäß Montesquieu keine. Gründe einer theologischen Tradition andererseits erklären für ihn (mit), warum der Islam für die Araber die richtige Religion ist oder warum das Christentum in China und Japan keine Fortschritte in der Missionierung machen kann. Auch wirtschaftliche Phänomene (die er in obigem Zitat nicht erwähnt hat, aber andernorts bespricht) spielen eine Rolle für die Staatsform eines Volks. Das hier alles zusammenzufassen, würde bedeuten, Vom Geist der Gesetze noch einmal zu schreiben.
Es fällt auf, dass sich Montesquieu nicht darum kümmert, woher die Gesetze überhaupt kamen, wie oder warum sie einmal ‚erfunden‘ worden waren. (Diese Lücke würde Rousseau mit seinem Contrat social füllen.) Er argumentiert nur (ohne ihn beim Namen zu nennen) gegen Hobbes‘ Aussage, dass ohne Staat und Gesetze die Menschen einander vernichten würden (homo homini lupus) – das Gegenteil ist wahr, meint er – und stützt sich in seinen Ausführungen allenfalls auf John Locke. (Die oben genannte Anarchie des Pöbels ist ja keine vorstaatliche Form, sondern der Auswuchs eines falsch organisierten Staats.) Auch andere ihm vorher gegangene Staatsrechtler (Hugo Grotius) erwähnt er nur am Rande. Selbst seine Zeitgenossen und Mit-Aufklärer Diderot, Bayle oder D’Alembert werden allenfalls in Nebensätzen für ihre Ansichten harsch kritisiert. Montesquieu war sich offenbar völlig bewusst, dass er mit Vom Geist der Gesetze etwas völlig Neues und anderes, schrieb, als was bisher in der Staats- und Rechtslehre existiert hatte.
Ein Text, den jeder verantwortungsbewusst Staatsbürger lesen sollte? Ja – und sei es nur, weil Montesquieu immer wieder den Akzent darauf legt, dass alle Staatsformen und alle Gesetze zeitlich wie örtlich bedingt sind. Allgemein gültig sind für ihn nur die Relationen, die eine lokale Version des Gemeingeists hervorbringen – er kennt keine universal gültigen Menschenrechte. Auch das ist der ‚Vater‘ des heutigen liberalen Staats. Und wenn Staaten wie China oder auch Länder der Dritten Welt ein Geltendmachen von Menschenrechten im Gebiet ihrer Staatshoheit zurückweisen, so greifen sie damit immer auch implizit auf Montesquieu zurück.