Untertitel: Eine Geschichte der Genußmittel. Schon die Orthografie von ‚Genuss‘ weist darauf hin, dass das Buch noch vor der letzten Rechtschreibreform gedruckt worden sein muss – es stammt tatsächlich aus dem Jahr 1980 (bzw., weil ich die zweite Auflage vor mir habe: 1981) und ist damals im Carl Hanser Verlag erschienen. Meines Wissens ist es als Taschenbuch bei Fischer noch immer auf dem Markt. Im Übrigen präzisiert Schivelbusch in seinen Vorbemerkungen den Untertitel dahingehend, dass er im Grunde genommen nicht eine Geschichte der Genussmittel geben wolle, sondern aufzeigen, wie die Genussmittel recht eigentlich selber Geschichte gemacht hätten, bzw. wie um ihretwillen Politik getrieben wurde.
Er beginnt mit einem kurzen Rückblick ins Mittelalter, wo als erstes prominentes Genussmittel (im weitesten Sinne) ein Gewürz steht, nämlich der Pfeffer. Dieser wurde, zusammen mit anderen Gewürzen, aber doch als Hauptgewürz, bereits im Mittelalter aus Arabien bzw. Indien nach Europa importiert. Die langen und komplizierten Transportwege machten aus dem Pfeffer eine Substanz von großer Seltenheit. Er war daher teuer und blieb dem reichen Adel vorbehalten. Er wurde, so Schivebusch, auch schon mal an der Stelle vom eben so seltenen Gold als Zahlungsmittel eingesetzt. Er wurde aber auch verschenkt und galt als Geschenk von hohem Wert. Er wurde von den Reichen vor allem aber auch in exorbitantem Maßstab in der Küche eingesetzt. Je schärfer jemandes Essen war, umso reicher musste er sein. Wenn man heute Rezepte aus dem Mittelalter liest, fühlt man sich eher in die exotische, indische Küche versetzt: Es wird viel und reichlich und vor allem auch sehr divers gewürzt. Das kommt gemäß Schivelbusch nicht von ungefähr. Ebenso wie der Pfeffer kam auch sein Gebrauch, kamen die Rezepte dazu aus Indien. Für die damaligen Europäer war die Herkunft aus dem Osten immer auch verbunden mit einer potenziellen Herkunft aus dem Paradies der Bibel, das man ganz vage in jener Gegend vermutete. Im Gefolge des Pfeffers kamen nicht nur weitere Gewürze nach Europa, sondern auch andere luxuriöse Gegenstände wie Seide etc. Es kamen auch gehobene Sitten aus dem Osten. Während also ursprünglich ein Rittergut nicht viel mehr war, als ein besser befestigter Bauernhof, wurden nun eigentliche Schlösser errichtet und darin Gelage nach festen Ritualen abgehalten. Als das Osmanische Reich sich auch Ägypten einverleibte und die bisherigen Handelswege zusätzlich erschwerte, indem es hohe Zölle auf Pfeffer & Co. legte, brach zwar der Verbrauch nicht ein, aber die Europäer begannen nach alternativen Handelsrouten zu suchen – die Zeit der großen Entdeckungen brach an und mit ihr das Zeitalter der Aufklärung.
Dass man auf den Entdeckungsreisen mehr und anderes fand, als man gesucht hatte, war nicht nur des Kolumbus‘ Schicksal. Ganz Europa ging es so. Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak kamen praktisch miteinander in die Alte Welt. Der eigentliche Geschmack im Gaumen mäßigte sich – die exorbitant scharf angerichteten Speisen des Mittelalters verschwanden spurlos von den Speisekarten. Dafür kamen, wie gesagt, neue Speisen – und die eigentlichen, auch heute noch so genannten Genussmittel. Machte früher der Pfeffer den Unterschied von Arm und Reich, so unterschied nun der Gebrauch von Kaffee den Bürgerlichen (und Intellektuellen) vom Adel (der beim Wein blieb), aber auch vom sich bildenden Proletariat, das noch lange beim ursprünglichen Hausgetränk, dem Bier, blieb. (Schivelbusch weist darauf hin, dass im ausgehenden Mittelalter in Deutschland in einer Handwerkerfamilie pro Kopf und Tag rund drei Liter Bier konsumiert wurden – und in diesem Konsum waren Frauen, Kinder und Babys nicht nur theoretisch-statistisch inbegriffen!) Der Kaffee setze sich vor allem in den puritanischen und protestantischen Gegenden durch – als nicht berauschendes, die Gedanken anregendes Getränk wurde es schon früh als ideal empfunden für den vorwiegend eine sitzende Kopftätigkeit ausübenden Mann im Komptor der Handelsgesellschaften. Frauen waren ursprünglich aus den sich bildenden Kaffeehäusern ausgeschlossen. Und auch Deutschland, durch den Dreissigjährigen Krieg retardiert, konnte sich nie die Kaffeehaus-Kulter ausbilden, die zunächst in Wien, London und Antwerpen, später auch in Paris, zur Zeit der Hochblüte der Aufklärung dazu führte, dass an allen Ecken und Enden solche Etablissements ihre Türen öffneten. Schokolade wiederum (als Getränk, nicht als Knabberzeug!) blieb lange Zeit dem Adel vorbehalten – als eigentliches Genussmittel begleitete sie die morgendlichen Levers der Reichen. Schokolade zu trinken wurde zum Symbol der Adligen und Reichen. (Goethe, bei seiner Transition vom Bürger zum Adligen eignete sich die Schokoladenkultur extra an.) Es kam dann, wiederum gemäß Schivelbusch, auch nicht von ungefähr, dass, als das produktive Bürgertum den unproduktiven Adel seiner Funktionen entsetzt hatte, gerade die heiße Schokolade in Form des Kakaos zum Getränk der Unmündigen herabgesetzt wurde – zunächst zu einem Frauengetränk, dann (als diese Funktion vom Kaffee übernommen wurde) sogar zum Kindergetränk. Der Tee hingegen ist im Grunde genommen eine durch die entsprechenden Kolonialisierungen hervorgerufene Spezialentwicklung des Kaffeekonsums vor allem in Großbritannien, wo die Kaffeehäuser bald durch Teehäuser abgelöst wurden.
Beim Tabak beobachtet Schivelbusch eine andere Entwicklung: Der Brauch des Schnupfens mit seinen elaborierten Riten ist eine rasch verschwindende Mode des Adels. Das Rauchen hingegen war zuerst da und hielt sich bis in die Neuzeit. Aber auch hier änderten sich die angewandten Techniken: Die Pfeife mit ihrer recht komplizierten Handhabung wurde durch die Zigarre ersetzt, die deshalb als die ‚rasche‘ Form des Rauchens galt. Die Zigarre war ‚ready made‘ und auch deshalb lange Zeit hindurch die Form, in der das Proletariat Tabak konsumierte – erst später wurde sie zum Symbol des Kapitalisten, dann nämlich, als mit der Zigarette eine noch schnellere Form des Tabakkonsums erfunden wurde. Und wie beim Kaffee war es zu Beginn des Tabakkonsums in Europa auch beim Tabak so, dass es zunächst eigene Häuser dafür gab, später dann zumindest ein eigenes Zimmer, das so genannte ‚Herrenzimmer‘, in das sich die Herren bei einer Gesellschaft zurückzogen um zu rauchen. Denn auch hier galt: Die Frauen waren ursprünglich vom Tabakkonsum ausgeschlossen. (Vielleicht mehr noch als dadurch, dass sie Hosen trug, schockierte George Sand ihre Umgebung damit, dass sie rauchte.)
Zum Schluss des Buchs finden wir einen Exkurs in jene Genussmittel, die auch in Europa einmal welche waren, es partiell in anderen Teilen der Welt noch sind, die aber heute als Rauschgifte diffamiert werden. Wir wissen alle aus der Literatur, von De Quincey oder Baudelaire, dass noch im 19. Jahrhundert Opium und Haschisch auch in Europa frei und öffentlich konsumiert werden konnten und durften. Erst die Art und Weise, wie China von den britischen Handelsgesellschaften mit Opium kirre gemacht wurde, öffnete die Augen für die Gefahr dieser Substanz, und, um nicht eventuell dem gleichen Schicksal zu unterliegen wie dieses Land, stellte man prohibitive Gesetze auf. Dass diese, im Gegensatz zu den immer wieder versuchten Verbote von Alkohol, weithin akzeptiert werden, liegt wohl an der so genannten westlichen Kultur. Die dann aber, und hier beißt sich die Katze in den Schwanz, in vielerlei Hinsicht aus Indien und Arabien importiert ist.
Insgesamt ein sehr interessantes und lehrreiches Buch, das die europäische Geschichte aus einem etwas anderen Blickwinkel erzählt. Reichlich mit Reproduktionen vieler zeitgenössischer Darstellungen illustriert, ist es auch ein optischer Genuss.
Und jetzt brauche ich einen Kaffee.
1 Reply to “Wolfgang Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft”