Simone de Beauvoir: La Vieillesse [Das Alter]

Auf grünem Hintergrund das auf einem bearbeiteten und jetzt farbigen Pressefoto beruhende Porträt der Autorin Simone de Beauvoir. Sie trägt eine farbige Kopfbedeckung. Darunter schaut ein wenig graues Haar heraus. Im Weiteren zeigt der gewählte Ausschnitt aus dem Buchcover Beauvoirs graue Brauen, darunter graue Augen.

Gegen Ende letzten Jahres (d.i.: 2024) machte in Deutschland ein in einem renommierten deutschen Verlag erschienenes Büchlein über das Thema Alter Furore. Wenn ich das richtig verstanden habe, mauserte es sich gar in den letzten paar Wochen des Jahres zum Jahresbestseller. Die Autorin ist eine deutsche Komikerin, die von Zeit zu Zeit im Fernsehen auch die Rolle einer Literaturkritikerin übernimmt (ohne dabei allerdings komisch zu sein – was ich für meinen Teil wiederum komisch finde). Bei einem meiner Besuche in meiner Stammbuchhandlung wollte ich einen kurzen Blick in das Buch werfen. Es war aber gerade ausverkauft. Oder noch eingeschweißt. Ich weiß es nicht mehr.

Aber es kam mir dabei in den Sinn, dass die französische Denkerin Simone de Beauvoir bereits einmal über dieses Thema geschrieben hatte. Ihr Buch La Vieillesse (auf Deutsch: Das Alter) ist bereits 1970 erschienen. Da war Beauvoir gerade mal 62 Jahre alt. Sie wurde denn auch – damit setzt das Buch ein – von ihrem Umfeld gefragt, warum sie ein Buch übers Alter schreibe, soooo alt sei sie doch noch gar nicht. Eine der typischen Reaktionen des späten 20. bzw. des nunmehrigen 21. Jahrhunderts, einer Epoche, die das Alter immer noch schamhaft beiseite schiebt und versteckt. Typisch ist ja dafür das erst im 20. Jahrhundert aufgekommene geflügelte Wort vom alt werden wollen, aber nicht alt sein wollen (mit dem, nebenbei, auch der deutsche Verlag von oben das Buch seiner Komikerin als erstes bewirbt).

Es ist Beauvoir zu Gute zu halten, dass sie größtenteils auf Plattitüden dieser Art verzichtet. (Wie immer in solchen Fällen: Der oder die erste, der oder die ein solches Wort geprägt hat, war ein kluger Kopf – die anderen sind nurmehr Papageien.) Ihr Buch deckt auf rund 800 Taschenbuch-Seiten so ziemlich alle Aspekte des Alterns ab, auch das muss ihr zu Gute gehalten werden. Der Teufel sitzt aber auch hier im Detail – und auf 800 Seiten gibt es leider verdammt viele Details.

Das Buch besteht aus zwei Teilen: Einer Außenansicht (Le point de vue de l’extériorité) und einer Innenansicht (L’être-dans-le-monde).

In der Außenansicht referiert Beauvoir biologische, ethnologisch-anthropologische und sozialgeschichtliche Erkenntnisse zum Thema „Alter“. Anders gesagt: Sie stellt dar, wie zum Beispiel verschiedene Kulturen – vom alten China mit seiner von Konfuzius und dem Taoismus geprägten Kultur über das alte Ägypten, das Judentum, das alte Griechenland (wo sie vor allem Athen und Sparta voneinander unterscheidet), über die europäische Renaissance und den Humanismus bis hin zur Moderne – mit dem Thema umgegangen sind. Da findet sich dann so ungefähr alles, das man sich vorstellen kann: von Hirtenkulturen, die auf ihren Wanderungen die Alten, nicht mehr Produktiven, zurücklassen und sterben lassen, bis hin zu einer Verehrung der Alten in sesshaften Kulturen, denen man dann auch schon mal magische Kräfte zuschreibt. Simone de Beauvoir will dabei einen Unterschied festmachen können zwischen jungen, dynamischen Kulturen (z.B. Athen), die das Alter eher verachten (Beauvoir bringt als Beispiel die vielen komischen bzw. gar verachtenswerten Alten in der antiken Komödie), und auf Bestandswahrung bedachten (z.B. Sparta, aber auch das schon erwähnte alte China). Simone de Beauvoirs Essay ist unterdessen über 50 Jahre alt, und die wissenschaftlichen Erkenntnisse haben sich geändert – auch und gerade in der Ethnologie. Sie stützt sich dort meist auf die französischen, strukturalistisch orientierten Ethnologen der Vorkriegszeit, aber auch auf den Engländer Frazer. Heute wissen wir, dass viele der damaligen ‚Erkenntnisse‘ nicht auf Feldforschung beruhten, sondern auf Erzählungen Dritter. Diese waren meist Laien, oft Missionare, und verfolgten mit ihren Berichten eigene und ganz andere Ziele. (So benutzt Beauvoir, nebenbei gesagt, denn auch ganz unbefangen die Begrifflichkeiten von primitiven und fortgeschrittenen Zivilisationen.) Das danach behandelte Thema der Altersarmut in ihrer Gegenwart ist da schon interessanter. Auch da müssten natürlich die seither verflossenen mehr als 50 Jahre nachgetragen werden, selbst wenn ich fürchte, dass die Verhältnisse sich in vielen – auch so genannt ‚zivilisierten‘ – Ländern nicht sehr geändert haben. Ein abschließender Versuch Beauvoirs, die französische Altersvorsorge neu zu berechnen, ist wohl nur noch für Beauvoir-Forschende interessant.

Der zweite Teil klingt, als ob Beauvoir darin eine existenzialistische Analyse oder Darstellung des alten Menschen versuchen würde. Ich hatte, offen gesagt, darauf gehofft. Aber genau das liefert die Autorin nicht. Mehr noch: Auch wenn sie erst das abschließende achte Kapitel mit Quelques examples de viellesses („Einige Beispiele von alten Menschen“ – wir haben im Deutschen keinen Plural für „das Alter“) überschreibt: Tatsächlich füllt sie schon vieles im ersten und dann den ganzen zweiten Teil mit Bespielen, wie alte Menschen, vor allem in der europäischen Neuzeit, mit dem Thema Alter bzw. dem eigenen Altern umgegangen sind, bzw., wie es ihnen im Alter ergangen ist. Obwohl sie versucht, eine gewisse Struktur hineinzubringen, indem sie zum Beispiel Altern bei Männern verschiedener Professionen verfolgt (Beauvoirs Beispiele betreffen fast alles Männer – dass überhaupt, auch in wissenschaftlichen Untersuchungen, die Frauen bei dieser Thematik vernachlässigt werden, stellt sie zwar selber fest, kann oder will es aber in diesem Buch nicht korrigieren), dessen Einfluss auf deren denkerischen Kapazitäten, wo sie dann bei den Naturwissenschaftlern unter anderem nach Physikern und Mathematikern unterscheidet. Sie stellt aber auch ‚privatere‘ Konsequenzen des Alterns vor. Die meisten ihrer Beispiele sind mit Männern des Worts gebildet (Virginia Woolf ist da eine seltene weibliche Ausnahme), was wohl kaum erstaunt.

Im zweiten Teil verliert sich Beauvoir auf Grund dieses Ansatzes zusehends in biografischen Details. Ihr Text mutiert zu einer Sammlung von Anekdoten (die dann auch noch selten lustig sind). Bedenklich wird es meiner Ansicht nach beim Thema ‚Sexualität im Alter‘. Menschen in den so genannten Seniorenresidenzen Zeit und Platz für sexuelle Aktivitäten zu geben, war zu ihrer Zeit noch kaum ein Thema, und wird auch bei Beauvoir nur gestreift. Ich rechne es ihr im Übrigen durchaus an, dass sie ‚Sexualität im Alter‘ überhaupt anspricht. Aber sie tut es, indem sie Beispiele bringt – wie gesagt: vor allem von Schriftstellern – wie diese im Alter damit umgehen. Dafür nimmt sie auch schon mal eine literarische Figur für das Ebenbild des Autors (mir ins Auge gefallen: der Protagonist in Tagebuch eines alten Narren von Tanizaki Jun’ichirō, den sie mit seinem Autor identifiziert). Und wenn sie, indem sie Beispiele aus dessen Tagebuch zitiert, dem französischen Autor Gustave Flaubert insgeheim voyeuristische Tendenzen vorwirft, so müssen wir feststellen, dass dies letztlich auch auf sie selber zurückfällt. Was geht es uns denn an, dass Tolstoi jedes Mal, wenn er ausritt, sexuell erregt nach Hause kam und dann über seine Sofia herfiel? Man kann es ja einmal erwähnen, aber Beauvoir kommt immer wieder darauf zurück. Einen Mehrwert bringt schon die erste Erwähnung dieses Umstandes nicht, finde ich.

Weitere Persönlichkeiten, die Beauvoir zum Thema nicht nur der Sexualität im Alter sondern überhaupt ihrer Aufführung als alte Menschen darstellt, kann man den unten angeführten Schlagwörtern entnehmen.

Fazit: La viellesse ist vielleicht eher ein Buch, in dem man von Zeit zu Zeit blättert, als dass man es in einem Zug durchlesen sollte.


Vor mir liegt folgende Ausgabe:

Simone de Beauvoir: La Vieillesse. Paris: Gallimard, 2024. (= Collections Folio Essais, N° 654)

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