Spring

Nach Herbst und Winter nun also mit Spring (Frühling) die dritte Jahreszeit, die von der Folio Society mit einer kleinen Anthologie gefeiert wird. Es hat etwas Eigenes, eine Frühlings-Anthologie an einem schönen und warmen Oktober-Nachmittag auf der Veranda zu lesen. Die Jahreszeiten geraten ein wenig durcheinander, und zum Schluss ist man nicht sicher, ob man nun gerade selber im Frühling ist, oder ob die Anthologie nicht doch den Herbst feiert.

Grösse (keine 100 Seiten), Vorgehen und Inhalt entsprechen ziemlich genau der Winter-Anthologie, und mutatis mutandis kann ich nochmals hinsetzen, was ich damals schon schrieb:

Man kann die enthaltenen Texte in 2×2 Kategorien einteilen. Längs (sozusagen) in Lyrik (schwergewichtig, wie bei allem, was die Natur und deren Impressionen auf den Menschen betrifft, natürlich die Romantik) und in Prosatexte. (Letztere wiederum kann man unterteilen in Extrakte aus Romanen und in Extrakte aus Reiseberichten und Tagebüchern.) Quer (sozusagen) in Texte, in denen der Winter positiv dargestellt wird, und in welche, die den Winter negativ schildern.

Natürlich finden wir zum Teil andere Autoren, als in den vorhergehenden Anthologien.

Den Anfang macht Edward Thomas‘ Gedicht But these are also Spring’s, eine Aufzählung von Dingen, die vielleicht nicht so schön sind, aber eben auch zum Frühling gehören, vor allem zum ganz frühen Frühling, wo der Winter noch herbe Spuren in der Natur hinterlassen hat. Das ist natürlich nicht das einzige Gedicht. Es folgen u.a. auch japanische Haikus, alte chinesische Lyrik oder die alten Römer (Horaz, Vergil). Die Russen sind vertreten mit Puschkin und Tschechow. Natürlich auch weitere englische Lyrik: Robert Browning (gleich mehrmals), Dylan Thomas (Under the Milk Wood), A. E. Housman, John Keats, Vita Sackville-West (ja, als Lyrikerin!), Robert Graves (auch als Lyriker!), Shakespeare (aus einem Sonnet), Coleridge und Wordsworth. Frühling auf dem Land (u.a. natürlich aus Thoreaus Walden, Dorothy Wordsworths Grasmere Journal ist ebenfalls vertreten), aber auch in fremden Ländern (sogar ein Ausschnitt aus dem Tagebuch von Robert Scott, dem Polarforscher). Frühling in der Stadt (wo dann nicht unbedingt die Natur im Zentrum steht, sondern gesellschaftliche Anlässe: die Brüder Goncourt besuchen einen Zirkus und notieren die orgiastisch aufgeladene Atmosphäre; Pepys geht mit seiner Frau ins Theater, das Stück ist eine Nullität, aber die beiden schämen sich, weil Frau Pepys offenbar unter dem Standard angezogen war; Virginia Woolf zieht über eine andere Frau her; Oscar Wilde sieht Ostern 1900 den Papst in Rom). An Auszügen aus epischen Werken ist ein Ausschnitt aus dem Prolog zu Chaucers Canterbury Tales zu nennen, oder aus ungefähr der gleichen Zeit aus Thomas Malorys The Morte d’Arthur, aus Toni Morrison (Jazz), aus Victor Hugos Glöckner von Notre-Dame, aber auch weniger seriöse Werke (ein kurzer Dialog zwischen Jeeves und Woster). Die Gartenpflege ist für einmal George Orwell anvertraut. Woodford schildert in seinem Tagbuch, wie sich zwei seiner Schweine an ausgeschüttetem Bier sinnlos betrinken.

Kinder- oder Jugendliteratur ist in Spring vielleicht nicht ganz so häufig anzutreffen, wie in den beiden andern Anthologien. Das mag an der doch immer vorhandenen leichten sexuellen Konnotation liegen, den das Einschiessen von allerlei Säften halt doch hat.

Dem deutschsprachigen Leser wird das völlige Fehler deutscher Literatur auffallen. Ich setze zur Kompensation das vielleicht berühmteste Frühlings-Gedicht der deutschen Literatur hierher:

∼ Er ist’s ∼

Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
– Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab ich vernommen!

Eduard Mörike (1804 – 1875)

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