Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums

Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, das heißt vermutlich, der Mensch schuf Gott nach dem seinigen. Dieser Satz fasst das wichtigste Argument von Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christentums sehr gut zusammen. Er stammt nur leider nicht von Feuerbach, sondern ist bereits zwischen 1773 und 1775 von Lichtenberg in einem seiner Sudelhefte niedergeschrieben worden (D 201). Allerdings hat Lichtenberg die Gedanken in seinen Sudelheften klug für sich behalten; Feuerbach konnte sich solche Gedanken runde 70 Jahre später (die erste Auflage des Werks erschien 1841) bereits öffentlich machen.

Feuerbach gilt als Jung- bzw. Linkshegelianer; es ist aber Gott sei Dank in diesem Werk sehr wenig von Hegel oder von einer Dialektik zu finden. Einmal verteidigt er einen Satz Hegels gegen eine Interpretation theologischer Kreise, und manchmal finden wir im Verhältnis von Gott zu Mensch bzw. von Mensch zu Gott Ansätze dialektischen Denkens im Hegel’schen Sinne. Aber wie er in der Trinität den Heiligen Geist sehr rasch abtut (als eine Spezialform des Sohnes nämlich, die weiter keine Beachtung verdient), so lässt Feuerbach das Verhältnis von Gott und Mensch, Mensch und Gott, einfach nur oszillieren – These und Antithese, die keine Synthese haben.

Ansatzpunkt der Argumentation dann im ersten Kapitel ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier. Tiere, so Feuerbach, haben ein einfaches Leben, Menschen ein zweifaches. Will sagen: Fürs Tier fallen inneres und äußeres Leben zusammen; nur der Mensch führt sowohl ein äußeres Leben in den Dingen der Welt wie ein inneres Leben, in dem er sich die Gegenstände des äußeren Lebens zu Objekten seines Denkens macht – exemplifiziert am Gebrauch der Sprache. Hier haben wir gleich ein Beispiel des oben angesprochenen Oszillierens; denn obwohl der Gegensatz von innerem zu äußerem Leben ein absolut notwendiger ist, wird er bei Feuerbach nicht aufgehoben. Gott, wie er ihn erklärt, ist nicht eine notwendige und folgerichtige Aufhebung dieser Dichotomie (das wäre dann Hegel), sondern Gott ist die Projektion des menschlichen Innenlebens nach außen. Der Mensch erfährt Objekte der Außenwelt, also muss es sie geben; er erfährt aber auch Objekte der Innenwelt, er erfährt sich selber als einen Denkenden – also muss es in der Außenwelt auch dafür ein Gegenstück geben. Dieses nennt er Gott. Gott ist, salopp ausgedrückt, das menschliche Denken in Groß.

Auf diese Weise ist der Text von allgemein religiösen Überzeugungen vorgedrungen zur Entstehung Gottes in monotheistischen Religionen, genauer: im Judentum. Der nächste Schritt ist nun folgender: Der christliche Gott ist entstanden, weil nicht nur mein Hirn nach einem Pendant in der Außenwelt verlangt, sondern auch mein Herz. Will sagen: nicht nur der Intellekt, auch die Gefühle werden in eine extramundane Persönlichkeit ausgelagert und ‚in Groß‘ dargestellt. Einen fühlenden Gott gibt es im Grunde genommen schon im Judentum, eine Gott, der nicht nur liebt, sondern auch zürnt, ja ganz offen zugibt zu hassen. Nur hat das Judentum diese Seite Gottes nicht weiter entwickelt. Anders im Christentum, das einen Sohn als fühlenden Gott kennt. Das Christentum ging, so Feuerbach, allerdings schon früh über die Dichotomie von Vater und Sohn hinweg. Da der Sohn – wiederum salopp ausgedrückt – vom Vater den Intellekt geerbt hat und seinerseits die Gefühle herbei trägt, ist es unterm Strich so, dass dem Christentum (das denn auch den Namen davon trägt) der Sohn als komplettes Ebenbild des Menschen in Körper und Geist zum einzig wahren und wichtigen Gott wird, hinter dem auch der Vater zurück tritt.

Um seine Interpretation zu stützen, verwendet Feuerbach einen rhetorischen Kniff: Er weist nach, dass man seine Gedanken bereits in den Schriften der Kirchenväter und Scholastiker finden kann. Er zitiert deshalb fleißig – eben nicht nur aus der Bibel (will vor allem heißen: den Evangelien und den Schriften des ersten Theologen des Frühchristentums, Paulus), sondern auch aus den Werken Augustins, des heiligen Bernhard oder des Aquinaten. Will sagen: Es sind hauptsächlich die Kirchenväter und – mit Ausnahme des Thomas von Aquin – eher frühe Vertreter der Scholastik, die in den Zeugenstand gerufen werden. (Weitere regelmäßig zitierte Autoren entnehme man den unten angefügten Schlagwörtern.) Die späteren Scholastiker verunglimpft Feuerbach als Theologen und wirft ihnen vor, das naive und unmittelbar einsichtige Bild Gottes des frühen Christentums hinter einer Mauer von Disputen und Finessen versteckt, ja begraben zu haben. Eine weitere Quelle für das ’naive‘ Gottesbild stellen spätere, mehr oder weniger approbierte Mystiker dar: Johannes Tauler, Sebastian Franck oder Jakob Böhme. Sie weisen wie die Frühchristen den ’naiven‘ Zugang zu Gott auf, und beweisen für Feuerbach deshalb, dass ‚im Volk‘ eine solche Anthropomorphisierung Gottes immer wieder stattfand. Last but not least der Moment, in dem Gott auch theologisch für einen Moment wieder hinter der scholastischen Mauer hervorgeholt wurde (wenn es auch nicht mehr derselbe werden sollte, den die Urchristen gekannt und geliebt hatten): die Reformation. Zusammen mit Augustin ist Martin Luther wohl der meist zitierte Autor im Wesen des Christentums; dazu kommen Melanchthon, Calvin und Zwingli. Auch hier: keine späteren Reformatoren. Heute als Humanisten bezeichnete Autoren werden vor allem zitiert, wenn sie Äußerungen getroffen haben, die der Meinung Feuerbachs entsprechen. (Womit zum Beispiel ein Erasmus ganz wegfällt.) Von antiken Autoren finden wir eigentlich nur Seneca und Cicero. Letzterer hat ja einiges über die Götter geschrieben, was Feuerbach, wo es in seine Tendenz passt, auch zitiert.

Nun macht Feuerbach einen Unterschied zwischen dem katholischen und dem protestantischen Gott: Der katholische Gott ist in der menschlichen Projektion übernatürlich geworden (weshalb zum Beispiel die Heiligen und die Mutter Jesu als Vermittler zwischen Mensch und Gott eingeschaltet werden mussten); der Protestantismus hat Gott (wieder?) zu einem Wesen aus Fleisch und Blut gemacht (ja: der Anklang ans Abendmahl ist von Feuerbach gewollt). Oder, wie es Feuerbach in Anhang XXV selber formuliert:

Das Ziel der katholischen Moral, die Gottähnlichkeit besteht daher darin, nicht Mensch, mehr als Mensch – d. h. ein himmlisches, abstraktes Wesen, ein Engel zu sein. […] Der Protestantismus hingegen hat keine supranaturalistische, sondern eine menschliche Moral, eine Moral von und für Fleisch und Blut, folglich ist auch sein Gott, sein wahrer, wirklicher Gott wenigstens kein abstraktes, supranaturalistisches Wesen mehr, sondern ein Wesen von Fleisch und Blut.

Und es folgt gleich ein Luther-Zitat.

Ich kann und will hier nicht alle Verästelungen darstellen, die Feuerbach anführt. Das Wesen des Christentums kann nach wie vor mit Gewinn gelesen werden, weil Feuerbach sich nirgends darum bemüht, den Glauben als Unsinn zu erweisen (was einerseits einfach, andererseits töricht wäre, weil es außer Anfeindungen nichts gebracht hätte), sondern er versucht tatsächlich, philosophisch-wissenschaftliche Grundstrukturen des (monotheistischen) Glaubens aufzuzeigen.


Ich habe den Text in folgender Ausgabe gelesen:

Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Ausgabe in zwei Bänden. Herausgegeben von Werner Schuffenhauer. Berlin: Akademie-Verlag, 1956.

Dieses Buch enthält die Varianten der drei zu Feuerbachs Lebzeiten erschienenen Ausgaben, kann also als kritisch bezeichnet werden. Ebenfalls sind Feuerbachs meist schlampige Nachweise der zitierten Stellen an Hand der damals zitierfähigen Ausgaben der jeweiligen Autoren in einem Anhang korrigiert. Dies und der Umstand, dass als Einleitung 110 Seiten einer überarbeiteten Version der Dissertation des Herausgebers fungiert, machten eine Ausgabe in zwei Bänden wohl nötig. Es handelt sich übrigens, wie unschwer zu erkennen, um eine DDR-Ausgabe. Das Vorwort – ich habe darin geblättert – ist mit seinen typischen, aus heutiger Sicht unnötigen Einmengungen von Marx und Engels (die natürlich gegenüber Feuerbach immer Recht behalten!) nicht brauchbar. Ansonsten scheint mir der Text korrekt wiedergegeben.

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