Lange klaffte zwischen Band 1 (2012 erschienen, zeitnah hier vorgestellt) und Band 3 (ebenfalls 2012, ebenfalls zeitnah, hier zu finden) der bei Wallstein erscheinenden kritischen Ausgabe der Gesammelten Schriften von Johann Heinrich Merck eine empfindliche Lücke: Band 2, der Mercks Beiträge für die Frankfurter Gelehrten Anzeigen des Jahres 1772 bringen sollte – des einzigen Jahres, in dem Merck für dieses Rezensionsorgan arbeitete – sollte zuerst abwarten, was die übrigen Jahre an Informationen zu diesen Beiträgen zu Tage förderten. Denn die Frankfurter Gelehrten Anzeigen veröffentlichten ihre Rezensionen, wie damals allgemein üblich, anonym. Nicht einmal Siglen wurden verwendet, um einen Mitarbeiter zumindest intern zu bezeichnen. Manuskripte sind ebenfalls keine überliefert; es war bei solchen Rezensionsorganen die Regel, dass das Papier nach dem Setzen einer sofortigen Wiederverwertung zugeführt wurde. So ist es bei vielen Beiträgen bis heute nicht klar, wer der Autor sein könnte (es rezensierten damals praktisch nur Männer!).
Nun also ist Band 2 ganz am Schluss der Edition erschienen und die kritische Ausgabe unter der Federführung von Ulrike Leuschner somit zu einem glücklichen Ende gekommen. Einem furiosen Ende noch dazu: Band 2 erscheint in zwei Teilbänden, von denen der erste, heute vorgestellte, den gesamten Text der Frankfurter Gelehrten Anzeigen bringt, der zweite dann (der in Kürze ebenfalls vorgestellt werden wird) die üblichen Sacherklärungen, sowie eine Zusammenstellung der (vermutlichen) Ersteller der jeweiligen Rezensionen. Es sind deren beinahe 400. Merck, der die Direktion einer bunten Truppe von haupt- und nebenamtlichen Journalisten inne hatte, hat davon selber eine nicht unbeträchtliche Anzahl verfasst. Wenn man bedenkt, dass Werke aus praktisch allen gelehrten Disziplinen rezensiert wurden (Jus und Kameralistik ebenso wie Theologie oder Naturwissenschaften, andere (konkurrierende oder befreundete) Rezensionsorgane, auch Belletristik war natürlich vertreten und es wurden sogar Kupferstiche vorgestellt, die gerade auf dem Markt waren) und neben deutschen auch englische und französische Schriften im Original vorgestellt wurden, dass alte und neue Autoren auch in Übersetzungen figurierten, bei denen dann die Frankfurter Gelehrten Anzeigen sich mit der Qualität eben dieser Übersetzungen beschäftigten (meist nicht zum Vorteil der Übersetzer) – wenn man alles dieses bedenkt, so kann man sich eine kleine Vorstellung machen, von der intellektuellen Bandbreite, die Merck abzudecken hatte.
Die Rezensionen vertreten einen pointierten, spätaufklärerischen Geist – vor allem mit den orthodoxen lutheranischen Theologen von Frankfurt führte das zu so manchem Zusammenstoß. Zusätzlich zu den aufklärerischen Tönen finden wir auch erste Signale, die das Aufkommen der neuen Genie-Ästhetik ankündigen, des später so genannten „Sturm und Drang“. (Den man zwar gerne als Zäsur betrachtet und – wenn schon – eher der Romantik zuordnet, der aber zumindest in den Anfängen mit seiner Betonung des Individuums und der individuellen (nicht nur künstlerischen!) Freiheit starke aufklärerische Züge trägt.) Die Zeitschrift erschien zwei Mal wöchentlich, und in den ersten paar Nummern sind die Rezensenten noch einigermaßen brav, dann werden die Beiträge frecher und sind schließlich oft reine (Personal-)Satire und voll feinster Ironie. Man kann sagen, dass hier die moderne Literaturkritik ihren Anfang nimmt. Auch ohne Kenntnis der besprochenen Werke wird man sich über Ton und Inhalt der Besprechungen köstlich amüsieren.
Ein nicht repräsentative Aufzählung der bekannteren (d.i.: heute noch halbwegs geläufigen) besprochenen Autoren (bzw., bei Zeitschriften u.ä.: Herausgeber) umfasst in ungefährer Reihenfolge ihres ersten Auftretens und ohne Anspruch auf Vollzähligkeit: Johann Georg Jacobi, Louis-Sébastien Mercier, Jean Claude Adrien Helvétius, Friedrich Gottlieb Klopstock, Theokrit, Johann Bernhard Basedow, Johann Georg Sulzer, Plutarch, Christoph Martin Wieland, Sophie von La Roche (als fast einzige Frau; wir finden nur noch ein paar Unbekannte, Engländerinnen meist, aber auch Französinnen und Deutsche, Autorinnen, die zum Teil sogar anonym blieben), Albrecht von Haller, Horaz, Tobias George Smollett, Emanuel Swedenborg, Terenz, Hippokrates, Edward Young, Christoph Friedrich Nicolai, Johann Jakob Engel, Aristophanes, Louis-Antoine de Bougainville, Heinrich Christian Boie, Moses Mendelssohn, Pindar, Johann Reinhold Forster, Salomon Gessner, Johann Caspar Lavater, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Horace Bénédict de Saussure, Homer, D’Alembert, Oliver Goldsmith, Voltaire, Denis Diderot, Leopold Friedrich Günther von Goeckingk, Christian Gottlob Heyne, Friedrich Heinrich Jacobi, Tacitus, Karl Wilhelm Ramler, Alexander Pope oder Frans Hemsterhuis. Sogar Friedrich der Große wird rezensiert – mit einer auf Französisch verfassten Schrift.
Ja, man kritisiert sich auch untereinander. Goethe lobt Herders Vom Ursprung der Sprache, Merck wiederum Goethes Von deutscher Baukunst. (Welches, nebenbei gesagt, bei Merck im Eigenverlag erschienen ist. Das riecht für heutige Verhältnisse nach Begünstigung – war es wohl auch; aber es erfüllte den Zweck, den eigenen Standpunkt dem Publikum zu erläutern und zugleich ihm gegenüber zu verschleiern, wer hinter den Rezensionen steckte. Unbesprochene Publikationen hätten die Leserschaft unter Umständen auf eine Spur führen können.)
Zu empfehlen für jede:n geistesgeschichtlich Interessierte:n gibt Band 2 der Werkausgabe nicht nur einen Einblick in die Welt der Intelligentsia des ausgehenden 18. Jahrhunderts, sondern ist auch aus eigenen Rechten auf Grund des Witzes und der Ironie der meisten Rezensionen bis heute lesenswert – selbst, wenn man das eine oder andere (oder auch die meisten) der rezensierten Werke nicht kennt. Und sehr rasch interessiert einen unterm Lesen gar nicht mehr, was denn nun von Merck stammen könnte oder nicht.
Johann Heinrich Merck: Gesammelte Schriften. Band 2.1: Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772 | Text. Herausgegeben von Ulrike Leuschner in Zusammenarbeit mit Eckhard Paul und Amélie Krebs. Göttingen: Wallstein, 2020