Marcel Proust: Der geheimnisvolle Briefschreiber [Le Mystérieux Correspondant et autres nouvelles inédites.]

Irgendwo, ich weiß nicht mehr, ob in einer Rezension oder in der Verlagswerbung, habe ich in Bezug auf die Texte dieses schmalen Büchleins von einer Sensation gelesen: wiederentdeckte frühe Texte von Marcel Proust! Tatsächlich scheinen diese Erzählungen aber – wenn ich die Einleitung des Herausgebers Luc Fraisse richtig verstehe – zumindest einer Person schon seit längerem bekannt zu sein, ein oder zwei Geschichten davon auch schon in den 1950ern veröffentlicht. Nicht, dass dies wirklich eine Rolle spielt – wichtig für das Publikum ist ja, dass hier diese Texte, die offenbar mehr oder weniger alle zur gleichen Zeit geschrieben wurden, dass diese Texte also hier zum ersten Mal gesammelt an die Öffentlichkeit treten.

Der Herausgeber ist dabei so verfahren, dass er nach der Einleitung und einer Editorischen Notiz (i.e.: einer Bibliografie der zitierten Werke Prousts – hier in der deutschen Version um die entsprechenden deutschen Übersetzungen ergänzt –, die die Standardausgaben enthält, nach welchen der Herausgeber im Folgenden zitiert) Prousts Texte folgen lässt. Auch diese werden immer in der selben Folge abgedruckt: Zuerst steht eine kurze Einleitung des Herausgebers in den gleich folgenden Text, dann der Text selber – mit den Varianten des Entwurfs. (Denn um mehr als Entwürfe handelt es sich hier nicht. Proust hat sehr rasch darauf verzichtet, die Texte in der vorliegenden Form zu beenden – geschweige denn zu veröffentlichen. Was – nebenbei – ein weiterer Beweis ist dafür, dass es dem vermeintlichen Dandy mit seinen literarischen Ambitionen schon sehr früh sehr ernst war, und er nicht mit aus seiner Sicht Halbgarem an die Öffentlichkeit treten wollte. Wenn es eines solchen Beweises noch bedurft hat.)

In seinen kurzen Einleitungen skizziert der Herausgeber Quellen und Einflüsse, vor allem aber werden die Erzählungen (Luc Fraisse spricht von Parabeln, Fabeln oder Märchen) immer in Bezug gesetzt zu Prousts Großroman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Motive, Abwandlungen, wörtliche Anklänge, die sich dort finden lassen. Der Herausgeber setzt dabei eine recht intime Kenntnis dieses Romans voraus. Außerdem zieht er Linien zu Proust Studium der Philosophie, indem er Spuren großer Philosophen in den kurzen Texten nachweist. Nicht nur Schopenhauer und Nietzsche – ein mehr oder weniger tiefe Bekanntschaft mit den Werken dieser beiden kann bei praktisch allen Schreibenden zwischen 1890 und 1935 vorausgesetzt werden. Aber Fraisse betont auch den Einfluss des Deutschen Idealismus: Fichte (dessen Ich, das das Nicht-Ich setzt, von Proust in eine Grundsituation menschlichen Liebens verwandelt wird) oder Schelling – weniger Kant. Dieses Vorgehen ist nicht uninteressant; in meinen Augen lässt es aber eine wichtige – und vom Herausgeber nicht beantwortete – Frage offen:

Sind diese frühen Texte Prousts tatsächlich nur interessant in Bezug auf Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder Prousts Philosophiestudium? Oder, anders: Was hat ein Gelegenheitsleser wie ich, der nicht mit literaturwissenschaftlichen Ambitionen liest, sondern aus Spaß an der Freud‘, was hat so jemand von der Lektüre? (Außer, dass natürlich der Wunsch aufsteigt, Prousts Großroman wieder einmal zu lesen. Aber diesen Wunsch hatte ich schon vorher – nur leider im Moment nicht die Zeit dazu.)

Also, ganz kurz: Unabhängig von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, kann man Folgendes feststellen: Alle Geschichten handeln von der Liebe. Mehr oder weniger offen der homosexuellen Liebe. Manchmal verschoben von der Liebe von Mann zu Mann hin zu einer von Frau zu Frau. Da sie alle Entwürfe sind, ja manchmal mitten in einem Satz abgebrochene Fragmente, haftet ihnen etwas Provisorisches an. Aber gerade das macht durchaus einen Reiz dieser Geschichten aus. Sie wirken dadurch hingehaucht, impressionistisch. Und das ist nicht die schlechteste Art, wie Liebesgeschichten geschrieben werden können. (Und, ja: Proust behält diese Attitüde auch für Auf der Suche nach der verlorenen Zeit bei – was nun wiederum viel von dessen Reiz ausmacht.)

Alles in allem kann ich also auch unabhängig von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit festhalten: Eine Lektüre dieses Büchleins (knappe 175 Seiten) ist sicher keine verlorene Zeit, im Gegenteil.


Marcel Proust: Der geheimnisvolle Briefschreiber. Frühe Erzählungen. Gefolgt von: An den Quellen von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Luc Fraisse. Transkription der Texte, mit Anmerkungen und Einleitung versehen von Luc Fraisse. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Berlin: Suhrkamp, 2021

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