Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas

Schwarz-weiß-Fotografie von Alice Schmidt einer alten Bachksteinbrücke von unten gegen den Himmel. Man sieht einige der Brückenbogen, hellen Himmel und dunkle Baumkronen. Links und rechts gelbe Ränder. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Es ist wahrscheinlich etwas gewagt von mir, einen Text von Arno Schmidt vorzustellen im Wissen, dass unter den potenziellen Leser:innen welche sind, die Schmidts Werk viel besser kennen als ich und teilweise dazu hochoffiziell publiziert haben – auch und gerade zu Seelandschaft mit Pocahontas. Aber dann schreibe ich in erster Linie ja für mich selber, um meine Lektüre festzuhalten. Dass es dieser kurze Text geworden ist, hat eine alte Vorgeschichte. Er war schon lange für eine erneute Lektüre vorgemerkt – genau gesagt, seit Frank Duwald vor nunmehr auch bald 10 Jahren für sein Blog Dandelion auch mich nach meinen drei liebsten Liebesromanen fragte und ich tatsächlich zunächst diesen Text auf die Liste setzen wollte, dann aber mit Entsetzen feststellen musste, dass von meiner Lektüre nur noch ein paar Bilder mit See hängen geblieben sind.

Nun denn: Vom Inhalt her gibt es tatsächlich auch nur wenig zu erzählen. Der Ich-Erzähler, er nennt sich Joachim und ist offenbar ein mittelloser unverheirateter Schriftsteller, unternimmt eine nächtliche Zugfahrt aus dem Saargebiet nach Diepholz, wo er seinen Freund Erich Kendziak trifft, einen verwitweten Malermeister, der in Kriegstagen der Untergebene des Unteroffiziers Joachim war. Gemeinsam fahren sie auf dessen Motorrad weiter zum Dümmer See in einen mehrtägigen Urlaub. Ziel des Urlaubs ist eine sehr spezielle Art von Erholung; sie planen nämlich von vorneherein, ein sexuelles Abenteuer erleben zu wollen. Tatsächlich finden sie nach ein wenig suchen eine Pension, die nicht allzu überlaufen ist (vor allem Joachim mag eigentlich keine Leute) und in der sogar zwei junge Frauen gemeinsam Urlaub machen. Rasch sind die beiden verteilt und das Anbaggern braucht auch nicht viel Zeit. Der Rest des Textes erzählt von der kurzen, glücklichen Zeit, die Joachim mit Selma – so heißt die von ihm Auserwählte – in, um und auf dem See verbringt, bis die beiden Frauen dann zurück nach Hause reisen. Was den Text besonders macht, ist der Umstand, dass trotz der für Schmidt typischen schnoddrigen Sprache des Ich-Erzählers keiner seiner anderen Texte eine Beziehung zarter und so poetisch schildert – jedenfalls keiner seiner mir bekannten.

Dass ausgerechnet dieser Text die Aufmerksamkeit der katholischen Kirche auf sich ziehen und Arno Schmidt eine Anzeige wegen wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften eintrug, ist eine der seltsamen Quirks der Literaturgeschichte. Der damalige Prälat des Erzbistums Köln, Wilhelm Böhler, initiierte die Anzeige, schob aber zwei Rechtsanwälte als Strohmänner vor. Er hatte ja schon Recht. Man stelle sich vor: Im tiefsten Mief der Adenauer-Zeit, 1955, wird ein Text veröffentlicht, in dem nicht nur von Anfang an ein Urlaub mit außer- bzw. vorehelicher sexueller Aktivität geplant war – nein, schlimmer, die Anmache des Ich-Erzählers erfolgt über plumpe atheistische Sprüche, und hat Erfolg. Sodom und Gomorrha! Dass im Folgenden dann auch schon einmal blanke Brüste und ein blanker Po vorkommen oder Geschlechtsverkehr durch wildes Aufeinander-auf-und-ab-Hopsen angedeutet wird, ist da ja schon fast Nebensache …

Formal finden wir XVIII kurze Kapitel. Vor jedem Kapitel ein kurzer, eingerahmter Text, jeweils rechtsbündig. Darin eine kurze Beschreibung der Szene. Schmidt selber sprach hier von einer Technik des Fotoalbums – da in den Beschreibungen aber auch kurze Handlungssequenzen geschildert werden, wäre ‚experimenteller Kurzfilm‘ treffender. Diese Fotografien erinnern in ihrer Art ein wenig an die Experimente des Stream of Consciousness der anglophonen Literatur. Ansonsten finden wir die für Schmidt typische Anlehnung seiner Sprache an die mündliche Umgangssprache, mit eigenwilliger Rechtschreibung und eigenwilligen Flexionen, was natürlich zur Schnoddrigkeit des Ich-Erzählers beiträgt.

Für uns heute, die wir erst letztes Jahr ein mehrfach(!) preisgekröntes Blutbuch gelesen haben, schildert Arno Schmidt ja banalen Blümchensex, und der Atheismus von Joachim und Selma ist plakativ aber plump. Was den Text bis heute interessant hält, ist meiner Meinung nach das Scheitern des Ich-Erzählers an der Welt. Er ist 1955 in der Seelandschaft bei weitem noch nicht der alles Wissende und alles Könnende, den wir nur ein Jahr später im Steinernen Herzen treffen – obwohl wenig fehlt.

Nämlich: Der Ich-Erzähler und sein Freund Erich beschließen, sich im Gästebuch der Pension mit falschen Namen einzuschreiben – falls ‚ein Unfall‘ geschieht (wie man das damals nannte). Während Erich aber seinen angestammten Beruf eines Malermeisters beibehält, macht sich Joachim zu einem Landvermesser. Das tut – aus anderen Gründen – auch der Ich-Erzähler im Steinernen Herzen, aber hier will mir dieser Beruf programmatisch erscheinen.

Warum ausgerechnet Landvermesser? Gut, da war Old Shatterhand, der seinen Eintritt im Wilden Westen als Landvermesser machte und dort auf seine große Liebe Winnetou traf. In gewisser Hinsicht könnte man Seelandschaft mit Pocahontas als das Winnetou I Arno Schmidts betrachten, was ich hier aber nicht vertiefen will. Und so ist der Landvermesser gerade in diesem Text unumgänglich. Ordnung in das Durcheinander (beim Landvermesser: einer Landschaft) zu bringen, indem man es vermisst und aufzeichnet, taucht als Versuch beim Schriftsteller Arno Schmidt immer wieder auf.

Doch hier ist dieser Versuch fundamental zum Scheitern verurteilt. Ob es nun eine Miß Leavitt ist, die sich in bezug auf die Entfernung der δ – Cepheiden geirrt hat, wie Joachim auf einem Zeitungsschnipsel liest, das auf dem Klo zum bekannten Zweck aufgelegt ist (auch Astronomie ist für Schmidt vor allem Vermessen!) oder ein verdecktes Zitat des großen Ordners des antiken Wissens Plinius verpufft ohne bei Selma Wirkung zu entfalten – die Ordnung entzieht sich dem Ich-Erzähler systematisch. Selbst Traumata des Weltkriegs brechen unvermittelt über Joachim herein.

Auch andere Kosenamen werden verwendet. So nennt sie ihn zum Beispiel mit der etruskischen Version des griechischen Namens Odysseus. Das war der griechische Held, der zunächst 10 Jahre vor Troja verbrachte, dann nochmals 10 Jahre für die Heimreise brauchte, um dann zu Hause angekommen, erst einmal wieder Ordnung schaffen zu müssen. Den Namen hat natürlich Joachim seiner Selma erzählt und es wird sich erweisen, dass dieser Odysseus hier – trotzdem auch er aus dem Krieg heimgekehrt ist – bei Selma keine Ordnung schaffen kann. Sie wird ihn wieder verlassen.

Selma ist ja selber ein Symbol für das Scheitern einer Ordnung. Joachim stellt natürlich sofort fest, dass ihr Name an Klopstock erinnert – den großen Ordner der Gelehrtenrepublik. Doch Joachim gibt ihr auch verschiedene Kosenamen. Neben dem einer Alpha-Riesin (da haben wir die Astronomie noch einmal), ist da der Titel-gebende Name Pocahontas. Das ist jene Indigene, die als Vermittlerin zwischen ihrem Stamm und den Weißen einen ebensolchen heiratete, um damit ordentliche, normale Beziehungen der beiden Völker zu schaffen. Wir wissen heute, dass das wenig an der Geschichte ändern sollte. Dann – wir sind ja ständig auf und im Wasser – kann Schmidt natürlich nicht auf Fouqué verzichten , bzw. sein Ich-Erzähler nicht auf Undine. Die Nixe, deren Vermittlungsversuch zwischen zwei Welten ebenso scheitert wie der von Pocahontas, ist im Text sogar noch präsenter. Joachim, der die Welt gern mathematisch berechenbar hätte, erlebt im Liebesspiel immer wieder, wie die eigentlich eckigen (also: leicht berechenbaren!) Gliedmaßen und Bewegungen seiner Selma, ihn umstricken und umgarnen wie (eben nicht berechenbare) Lianen oder Polypen.

Ähnlich scheitert der Ich-Erzähler bei seinem Versuch einer Kritik an einem Satz Kants. Es bleibt ganz einfach unverständlich, was er denn nun sagen wollte, und die drei anderen gehen einfach darüber hinweg.

Last but not least – und da wird die Geschichte wirklich berührend – kommen wir zum Schluss des Textes. Wir erinnern uns: Geplant war ein kurzes sexuelles Abenteuer ohne weitere Bedeutung für alle. Aber nicht einmal das klappte. Zwar Joachims Freund Erich, unverwüstlich, rühmte schon wieder die Autobusschaffnerin: »Haste die gesehn?!«. Aber Joachim selber?

Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.

Finis operis.

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