Vor etwas mehr als einer Woche wurden die Nominierten des Schweizer Buchpreises 2024 bekannt gegeben. Die Longlist des Deutschen Buchpreises, die immer etwas früher als die Schweizer Liste veröffentlicht wird, hat weiter keine Bücher enthalten, die mich interessieren. Einzig, dass Mithu Sanyal wieder nominiert wurde, habe ich zur Kenntnis genommen, aber ihr letztes nominiertes und von mir gelesenes Buch habe ich zwar nicht schlecht gefunden, aber nun auch nicht wieder so gut, dass ich ihr neues nun auch lesen wollte. Ein Buch findet sich auf beiden Listen. Auf der Schweizer Liste steht mit Michelle Steinbeck eine Frau, die 2016 für den Deutschen Buchpreis nominiert war und damals mit ihrem Buch eine als renommiert geltende Alt-Kritikerin zu einer bösartig persönlichen und von vielen als übergriffig empfundenen Kritik verführte. Auch dieses Buch las ich damals. Der Alt-Kritikerin konnte ich nicht zustimmen. Seltsamerweise erinnere ich mich nicht an ihre Meinung zur Blutbuche. Vielleicht ist sie ja im noch älteren Alter milde geworden. Dennoch: dieses Jahr wieder ein Buch von Steinbeck zu lesen, zu dem die Kritik sagt: Die Autorin bleibt ihrem Stil treu, kann ich dann doch auch wieder nicht über mich bringen.
Die fünf Nominierten des Schweizer Buchpreises 2024 bestehen seltsamerweise größtenteils aus … wie soll ich das ausdrücken … Selbstfindungsgeschichten. Mindestens zwei sind sogar autobiografisch gefärbt. Ob das gerade allgemeiner Trend in der vom Feuilleton beachteten Literatur ist, kann ich mangels Interesse an der Feuilleton-Literatur nicht sagen. Vielleicht ist es auch nur der Zufall der persönlichen Geschmäcker der diesjährigen Jury. Jedenfalls war ich schon dabei, den Schweizer Buchpreis für dieses Jahr ebenso ad acta zu legen wie den Deutschen, aber dann las ich die Kurzbeschreibung von Rothenbühlers Polifon Pervers.
Schon der Titel klingt erfrischend anders. Und auch die erzählte Geschichte ist es – jedenfalls über weite Strecken. Erzählt wird in Rothenbühlers Heimatdialekt, dem Luzerndeutschen. Das sollte, habe ich mir beim Bestellen gedacht, kein Problem sein für mich, dessen eigene Mundart immer wieder als Luzerndeutsch bezeichnet wird, auch und gerade von Schweizer:innen. (Dabei ist sie eigentlich nur eine Mischung aus Dialekten aller Himmelsrichtungen, die sich ergeben hat auf Grund häufiger Umzüge des Knaben und des jungen Mannes.) Außerdem habe ich ja schon Texte von Hanspeter Müller-Drossaart im Urner und Obwalder Dialekt gelesen und hier vorgestellt – bloß waren das alles Gedichte. Nun: Es war dann auch kein sehr großes Problem zum Lesen; allerdings macht es doch einen Unterschied, ein Gedicht auf Mundart zu lesen oder einen Roman.
Die Geschichte beginnt im Jahr 2017 (oder, wie es der Autor ausdrückt, in der Schpelziit [= Spielzeit, ein Theaterausdruck also] 17 / 18 und endet 2020, mit dem Ausbruch der Pandemie. Der Ich-Erzähler ist ein junger Mann, der seinen Lebensunterhalt als DJ verdient. Erst ungefähr in der Mitte des Romans erscheint er persönlich in der Handlung, alles vorher ist ihm von einer der Protagonistinnen erzählt worden, zu deren Geliebten er wurde. Wir lesen in Polifon Persvers die Geschichte von zwei jungen Frauen, die auf den Gedanken kommen, einen Verein für Unterhaltung zu gründen. Diesen nennen sie dann eben Polifon Pervers und lassen seine Tätigkeit von verschiedenen Stiftungen, Firmen und Privaten sponsern. Dank der Cleverness der beiden erweist sich das als unerwartet einfach, und so wächst der Verein rasant. Nachdem man klein angefangen hat mit der Ausrichtung von ein paar Aufführungen eines Studententheaters, wird man zum Schluss in der ganzen Schweiz tätig sein und auch anderes als Theater-Aufführungen organisieren.
Die beiden Frauen erweisen sich vor allem auch im Finanziellen als Organisationsgenies. An einer Team-Sitzung des Vereins, die einher geht mit dem Konsum von viel Weißwein (ich habe noch nie ein Buch gelesen, in dem so viel Weißwein geflossen ist!), Gras und Apéro-Gebäck, wird der Verein auf die nächst höhere Stufe gehoben. Einige der Bekannten der beiden Frauen sind freischaffende Künstler bzw. Nichtstuer bzw. Hanf-Anbauer. (Ja, es sind tatsächlich alle Männer.) Diese verdienen relativ viel Geld unter der Hand, und zum Teil sogar illegal, eben mit dem Verkauf von Haschisch und anderen Drogen – Kokain aber rühren sie nicht an, wie der Ich-Erzähler entrüstet festhält. D Schanti (die Schweizer Dialekte setzen auch vor Personennamen einen Artikel, in diesem Fall D für ‚die‘; und Schanti ist die lautmalerische Umschrift der Koseform von ‚Chantal‘, wie mir überhaupt die Namen fast am meisten Probleme bei der Lektüre gemacht haben) – vor allem d Schanti also entpuppt als wahres Finanzgenie und findet einen Weg, wie sie die Einkünfte ihrer Freunde, die fast allesamt illegal und meistens nicht versteuert sind, einer Legalität zuführen kann und sogar noch dafür sorgen, dass die Altersvorsorge der Betroffenen ins Lot kommt. Das Konstrukt, das die Justiz wohl als ‚Geldwäscherei‘ qualifizieren würde, implodiert zum Schluss. Ein Teil der Vereinsmitglieder flieht ins Ausland, nach Schottland. Die beiden Freundinnen aber, d Schanti und die anfangs federführende Sabin stellen sich der Justiz – d Sabin wegen ihrer (wie es der Ich-Erzähler formuliert) protestantischen Arbeitsethik und Moral, d Schanti, die schon in Schottland war, weil sie ihre Freundin das dann doch nicht alleine ausbaden lassen will (was der Ich-Erzähler und Geliebte der Schanti als übertriebene Heldinnenmoral bezeichnet und als Kitsch). Mit der Hoffnung, dass in ein paar Jahren auch in der Schweiz Konsum und Anbau von Haschisch legalisiert würden, und damit die im Exil Lebenden zurück kehren könnten, endet die Geschichte.
Was soll ich sagen? Es ist tatsächlich ein Schelmenroman von guter Qualität. Er hat, vor allem in der Mitte, seine Längen, wird aber im Großen und Ganzen sehr rasant erzählt. Die Satire auf den Schweizer Kunst- und Kulturbetrieb ist witzig geraten, die ebenfalls sehr häufig anzutreffende Typen-Satire ebenfalls. In Schlagworten formuliert: Gen Z trifft auf Dada – und der Babyboomer freut sich. Ich will nicht entscheiden, ob solche Literatur preiswürdig ist; ich habe mich jedenfalls bei der Lektüre prächtig amüsiert. Und viel mehr verlangte ich nicht.
Béla Rothenbühler: Polifon Pervers. Edition spoken word script 50 im Verlag Der gesunde Menschenversand [sic!], 2024. [In dieser Reihe sind auch Mundart-Texte besser bekannter Autoren erschienen; in der am Schluss beigefügten Aufzählung finde ich u.a. Pedro Lenz und Franz Hohler.]
Der Verlag, nebenbei, wurde offenbar mit der Nomination kalt erwischt. Ich habe, gemäß der Buchhändlerin meines Vertrauens, gerade noch eines der letzten Exemplare der Startauflage gekriegt. Im Moment, in dem ich dies schreibe, wird fleißig nachgedruckt, aber es gibt Wartezeiten. (Im Übrigen hat dasselbe Schicksal auch den viel größeren Verlag C. H. Beck erwischt, dessen Buch Seinetwegen von Zora del Buono aktuell ebenfalls nachgedruckt wird. Allerdings war dieses Buch auch für den Deutschen Buchpreis im Rennen.)