Poésies: Das sind Dichtungen, also Lyrik, im vorliegenden Fall eines relativ Unbekannten, denn André Chénier (auch: André de Chénier) gehört nicht gerade zu den Autoren, die man üblicherweise im französischen (Schul-)Kanon antreffen wird, wage ich zu behaupten. Das hat verschiedene Gründe, die ich im Folgenden kurz aufzählen werde.
Zunächst einmal ist André Chénier, anders als sein jüngerer Bruder Marie-Joseph, vor allem Lyriker. Seine Prosaschriften sind vernachlässigbar, Dramen hat er meines Wissens keine geschrieben. Und Lyriker, das wissen wir, haben es spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwer im Literaturbetrieb.
Dann hat Chénier zu Lebzeiten gerade mal zwei Gedichte veröffentlicht. Bei beiden handelt es sich um politisch motivierte Lobeshymnen und beide sind nichts wert. Chénier hat zwar sein ganzes Leben lang geschrieben, aber seine Gedichte zirkulierten allenfalls unter seinen Freunden und in seiner Familie.
Vieles von dem, das überliefert ist, sind denn auch Entwürfe, Fragmente. Chénier pflegte (wie Molière, was er wusste und worauf er stolz war) zunächst den Inhalt seiner Gedichte in Prosa festzuhalten und dann an den Versen zu schmieden.
Last but not least: André Chénier hatte keine Zeit. 1762 kam er in Galata bei Konstantinopel zur Welt als Sohn eines französischen Diplomaten und einer griechischen Mutter (deren Familie aber schon lange in Konstantinopel zu Hause war – wir stehen hier noch vor den griechischen Befreiungskriegen). Die Familie, bzw. die beiden Söhne und ihre Mutter, kehrte gerade noch rechtzeitig nach Frankreich zurück, um in die Wirren der Französischen Revolution verwickelt zu werden. Beide Söhne schlossen sich der Revolution an. Während Marie-Joseph noch lange einen guten Draht zu Robespierre unterhielt, und auch André durchaus für die Absetzung des Königs war, wendete er sich von der Revolution ab, als diese zusehends extremistischer und blutdürstiger wurde. So schrieb er, bereits in einem Versteck außerhalb von Paris, in Versailles, eine lyrische Lobeshymne an Charlotte Corday, die Mörderin Marats. Es kam, wie es kommen musste: Er wurde entdeckt und verhaftet. Gemäß dem Herausgeber meiner Ausgabe (s. u.) ist an der Darstellung Alfred de Vignys (in Stello) dieses wahr, dass sein Vater alle seine Beziehungen spielen ließ, um den Sohn aus dem Gefängnis zu kriegen – und gerade das Gegenteil erreichte. André Chénier wäre wohl im allgemeinen administrativen Chaos der Robespierre’schen Schreckenszeit in der Masse der Gefangenen untergegangen, wenn sein Vater die Behörden nicht gerade auf ihn aufmerksam gemacht hätte. So kam es, dass er guillotiniert wurde zwei Tage bevor mit der Verhaftung Robespierres dessen Schreckensregime ein Ende bereitet wurde.
Lange Zeit ging der Schriftsteller André Chénier dann vergessen. In der Familie hielt man den kurzzeitig berühmt gewordenen Dramatiker Marie-Joseph für den begabteren und besseren Autor. Andrés Papiere wurden zwar pietätvoll aufbewahrt, aber das war es auch schon. Allerdings überlebte Marie-Josephs Ruhm seinen Autor nicht. Die Werke des jüngeren Bruders von André waren zu sehr zeitgebunden, als dass sie länger Bestand haben konnten. (Ein Schicksal, das meiner Meinung nach auch Bölls Werk eines Tages teilen wird.) André aber wurde von den französischen Romantikern und danach den ‚Parnassiens‘ wiederentdeckt. Vieles an der Faszination der Generation der Mitte des 19. Jahrhunderts für ihn war sicher dessen Schicksal zu verdanken. Aber …
Nicht alles, wie ich nach der Lektüre seiner Gesammelten Gedichte bestätigen kann. Was aus Chénier hätte werden können, muss Sache der Spekulation bleiben. Was er aber war: einer der letzten klassizistischen Autoren, sich an Racine, Molière oder Ronsard orientierend und in deren Gefolge natürlich an den antiken Klassikern. Homer, Vergil, Horaz, Pindar, Aischylos, Archilochos, Sappho, Ovid, Petronius Arbiter, Tibull, Properz, Lukrez – er kannte sie alle, dichtete sie nach, dichtete sie um. Da ist nun zwangsläufig oft und viel Epigonales dabei. Aber er findet auch zu moderneren Tönen, dann nämlich, wenn er sich an Zeitgenossen orientiert, wie zum Beispiel am (zugegeben seinerseits antikisierenden) Schweizer Salomon Gessner. Und in seinen besten Gedichten findet er sogar zu eigenen Tönen. Seine Liebesgedichte – vor allem, wenn es um Liebesschmerz geht – verlassen das anakreontisch Tändelnde und werden zum Ausdruck echter Gefühle. Ähnliches gilt für seine Hymnen an Länder und Gegenden, die er liebt, weil er dort glückliche Momente verbracht hat – allen voran sein Mutterland Frankreich und die Schweiz (dort wiederum explizit das Appenzellerland!). Nicht aber England, obwohl er zeitweise als Diplomat in London gearbeitet hatte. Dafür, und das macht Teil seines eigenen Tons, die (etwas fiktive) Heimat seiner Mutter – Byzanz und sogar Babylon.
Mit solchen Gedichten nimmt Chénier bereits Romantisches voraus, kein Wunder also fühlen sich die Romantiker auch hierin mit ihm verbunden. Von ein paar (ich nenne sie mal: naturphilosophischen) Gedichten abgesehen aber, in denen er an Leute wie Newton, Buffon, Bougainville oder Cook (aber auch Euklid) erinnert, fehlen die Autoren seiner Zeit mit der oben erwähnte Ausnahme des antikisierenden Gessners und der – allerdings auch politisch relevanten – Voltaire und Rousseau. Die Französische Revolution scheint bei André Chénier eine Art geistesgeschichtlicher Lücke hinterlassen zu haben, aufklärerische Autoren fallen bei ihm größtenteils unter den Tisch.
Dass André Chénier selbst in Frankreich zwar bekannt, aber nicht kanonisch ist, zeigt wohl am besten der Umstand, dass es keine pädagogisch aufbereiteten Ausgaben für die Schule gibt und die einzige einigermaßen wohlfeile Taschenbuchausgabe der Reprint einer älteren Ausgabe ist:
Poésies de André Chénier. Édition critique. Étude sur la vie et les œuvres d’André Chénier. Bibliografie des œuvres posthumes. Aperçu sur les œuvres inédites. Variantes, notes, commentaires et index. Par L. Becq de Fouquières. Paris: Charpentier, 1872. [Faksimile-Reprint. Paris: Éditions Gallimard, 1994/5 – meine Auflage 2023]