Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik

Teil einer Zeichnung von Arno Schmidt: eine Karte der Insel, auf der die Gelehrtenrepublik angesiedelt ist. Links und rechts zwei gelbe Streifen. - Ausschnitt aus dem Buchcover

Gefragt, welches Buch ich als Einstieg in das Arno Schmidt-Universum vorschlagen könnte, würde ich wohl diesen Roman hier an zweiter Stelle erwähnen. Wir finden hier zwar durchaus auch Schmidt-typische Merkmale wie den am Mündlichen orientierten Sprachstil und eine eigenwillige Orthographie, aber es ist vielleicht das Buch, in dem er sich diesbezüglich am meisten zurücknimmt. Und wenn er sich in seinen anderen Romanen vorwiegend mit dem männlich-weiblichem Beziehungsgeflecht beschäftigt und somit das meiste der Handlung innerlich abläuft, finden wir hier auch eine äußere Handlung, die streckenweise sogar sehr spannend ist und an einen Abenteuerroman erinnert. Dennoch ist Die Gelehrtenrepublik nicht platt oder trivial, sondern weist sehr wohl Momente auf, in denen die Lesenden in ziemlich abgründige Überlegungen gezogen werden.

Die Geschichte spielt in einer rund 50 Jahre nach dem Erscheinen des Romans angelegten Zukunft – also im Jahr 2008. Der sich Ende der 1950er zusehends anheizende Kalte Krieg (man entschuldige dieses Wortspiel) hat seine Spuren in der Gelehrtenrepublik hinterlassen. Unterdessen hat nämlich im Buch der dritte Weltkrieg stattgefunden. Das menschliche Leben in Europa ist ausgelöscht, ebenso ist ein breiter, sich von Norden nach Süden hinziehender Streifen auf dem nordamerikanischen Kontinent für Menschen unbewohnbar geworden. Erzählt wird die Geschichte in der Ich-Form von einem US-amerikanischen Journalisten namens Charles Henry Winer, der ein Urgroßneffe Arno Schmidts zu sein vorgibt.

Da, worüber er berichtet, im Grunde genommen geheime Verschlusssache ist, greifen die USA in die Trickkiste: Der (ursprünglich in der Fiktion englisch geschriebene) Text wird von einem emeritierten Studiendirektor in eine tote Sprache übersetzt – nämlich das Deutsche. Der Übersetzer, Chr. M. Stadion, erlaubt sich, in guter Tradition des 18. Jahrhunderts, dem Text Fußnoten beizugeben, in denen er das eine oder andere Problem des Textes diskutiert. Schmidt benutzt diesen Trick, um den einen oder anderen Insider-Witz einzufügen. Nicht alle sind gleich gelungen.

Der Roman besteht aus zwei ziemlich genau gleich großen Hälften: einem Bericht Winers über seinen Besuch im Hominiden-Streifen (das ist jener für Menschen unbewohnbare Streifen durch die USA, von dem oben die Rede war) und dem unmittelbar darauf folgenden Bericht über den Besuch einer mobilen Insel, die offiziell IRAS genannt wird (für: International Republic for Artists and Scientists und die dem Roman den Titel gebende Gelehrtenrepublik darstellt. Die beiden Hälften haben inhaltlich keinen Zusammenhang; sie sind praktisch nur über den Ich-Erzähler verklammert, was die Literaturwissenschaft bis heute intrigiert.

Im ersten Teil durchquert Winer den Hominiden-Streifen, so genannt, weil die Radioaktivität dort offenbar dazu geführt hat, dass Menschen zu Mischwesen aus Mensch und Tier mutiert haben – ein in der damaligen Science Fiction gar nicht unübliches Horrorszenario. (Wie man denn überhaupt Die Gelehrtenrepublik als Science Fiction bezeichnen kann, was die französische Autorin Marie Darrieussecq seinerzeit im Dokumentarfilm über Arno Schmidt ja auch getan hat, während die deutsche Literaturwissenschaft sich bis heute schwer tut, die starke Verankerung Schmidts im so genannt Trivialen zu akzeptieren.)

Dabei ist genau dies mit ein Grund, warum ich Die Gelehrtenrepublik vor den meisten anderen Werken Schmidts zum Einstieg in seine Welt empfehle. Vor allem der erste Teil, der im Hominiden-Streifen spielt, ist (auch) eine groß angelegte Parodie auf – Karl May. Die weite Sandwüste, die Winer zu durchqueren hat, kennen wir auch aus Mays Wild West-Romanen. Die Kentaurin, eine der dort vorkommenden Mutationen, die sich in ihn verliebt und er sich in sie, und die einen Namen trägt, der verdächtig nach Iltschi klingt, dem Namen von Winnetous Pferd, ist dann nur die logische Fortsetzung. (Erinnern wir uns, wie viel Liebe Karl Mays Protagonisten immer wieder ihren Pferden angedeihen lassen! Mehr als jeder Frau, wenn wir mal die aus Kolportage-Zeiten stammende Jugendliebe Winnetous außer Acht lassen.)

Auf der IRAS zeigt sich uns eine andere Facette von Schmidts Schreiben. Hier finden wir Kollegenschelte und wir finden den Poeta doctus, als den sich Arno Schmidt so gern gerierte. Man nehme Schmidts entsprechende Funk-Essays zur Hand und schaue, wer hier daraus alles auftaucht – manchmal in nur nebenbei hingeworfenen Bemerkungen: Das ganze dichterische Pantheon Arno Schmidts versammelt sich in der Schilderung dieser Insel. Es ist nämlich eine ihrer hervorragenden Eigenschaften, dass tote Dichter darauf nach wie vor hoch geehrt sind. Die gelehrten Spielchen Schmidts beginnen schon im Namen des Übersetzers, und gehen dann weiter über Schnabel zu Tieck, Moritz, Grabbe, den drei Brontë-Schwestern. Alles Namen, die der Ich-Erzähler mit dem feinsinnigen Lächeln des Kenners nebenbei fallen lässt. Selbst den Titel eines der längst verschollenen französischen Comtes de fée, den Schmidt wohl über Wieland kennen lernte, nennt er. Seinen hoch verehrten Döblin sowieso. (Und, kleine Pointe am Rande, es wird – zumindest im Teil der UdSSR – auch Schach auf höchstem Niveau gespielt.)

Zwei Mal allerdings vertut sich Arno Schmidt, genauer gesagt opfert er einer Pointe die Persona des quasi allwissenden Literaten Winer. Da ist der junge Sergeant Raoul Mercier, den Winer nach der Durchquerung des Hominiden-Streifens kennen lernt, einer der so genannten Rangers, die den Zugang bewachen. Es handelt sich um einen französischsprachigen Kanadier (mit dem Winer – natürlich – vergnügt französisch [sic!] plapperte). Es erweist sich, dass der junge Mann einen Bruder hat, einen Bildhauer, der sich auf der IRAS aufhält und den Vornamen Louis-Sébastien trägt. Winer scheint den französischen Schriftsteller der Goethe-Zeit, der diesen Namen getragen hat und der auch in Deutschland bekannt war, offenbar nicht zu kennen; jedenfalls reagiert er nicht. Je nun, man muss Arno Schmidt wohl diesen kleinen Scherz erlauben (nur schon, weil er, neben der Figur des Ich-Erzählers, die einzige inhaltliche Klammer darstellt zwischen den beiden Teilen des Romans), ebenso wie den, dass der als einer der Erfinder der mobilen Insel mit einem Porträt im Eingangsbereich geehrte Jules Verne dem Ich-Erzähler offenbar ebenso unbekannt ist.

Dabei ist Jules Vernes Propellerinsel eine der hauptsächlichen Inspirationen, was die reine (abenteuerliche) Handlung des zweiten Teils dieses Romans angeht – bis weit in die Details hinein mit der Spaltung der Insel in einen kapitalistischen Bereich (bei Schmidt den der USA) und einem anderen, der allerdings im Unterschied zu dem bei Verne nicht so sehr hedonistisch ausgerichtet ist sondern dem realen Sozialismus der UdSSR verpflichtet. Hingegen nimmt Schmidt von der dem Roman den Titel gebenden Gelehrtenrepublik Klopstocks gerade mal die Idee, dass den besten Autoren und Künstlern (Frauen sind in der Vergangenheit keine drunter, in Winers Gegenwart allerdings sehr wohl) Büsten oder Statuen errichtet werden – je nach Qualitätsgrad ihres Werks vom einfachen Relief bis hin zum vollen Standbild.

Und dann, ganz am Schluss, finden wir noch eine Pointe, die ich von Arno Schmidt so nicht erwarten würde. Winer kann sich in letzter Minute von dem wie Jules Vernes Propellerinsel dem Untergang geweihten Paradies (das eben keines war) retten. Im Helikopter, auf dem Weg zurück in die USA, schießt ihm als letzter Gedanke des Romans folgendes durch den Kopf:

Und was’n Einfall das wieder : ‹Einmal lebt’ich wie die Götter› !!!. –

Winer, dürfen wir vermuten, weiß gar nicht, wen und was er hier zitiert; Schmidt wusste es sicherlich: Es ist der Schluss von Hölderlins Ode an die Parzen. Schmidt, der ansonsten immer wieder gegen die Lyrik und die Lyriker polemisiert, kann die letzten Endes unmögliche Liebe zwischen Winer und der Kentaurin nicht anders zusammenfassen und betrauern als mit einem Gedicht Hölderlins, das aus dessen Zeit mit Suzette Gontard stammt und (vielleicht) ebenfalls eine unmögliche Liebe zusammenfasst. Und so stehen plötzlich Trauer und Tod am Ende des Romans und können selbst vom ‚hard boiled‘ Romancier Schmidt nicht anders als lyrisch gefasst werden.

Arno Schmidt at his best. Zugleich aber auch ein guter Einstieg in seine Welt.

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